Milner Donna
sich die Fliegengittertür mit einem Quietschen öffnete. Boyer blieb still in der Tür stehen, seine Silhouette von dem hinter ihm brennenden Licht beleuchtet. »Ich habe ihn gefunden«, sagte er endlich.
Am Herd hob meine Mutter die Hand zum Mund. Sie stand wie erstarrt da, die unausgesprochene Frage verriet nur ihr Blick. Ich hielt den Atem an. Das Schälmesser fiel mir aus der Hand.
Boyer schüttelte den Kopf, und seine wortlose Antwort füllte den ganzen Raum aus. Er ging langsam durch die Küche und nahm den Hörer vom Wandtelefon neben dem Kühlschrank ab. Die Metallscheibe klickte und surrte nach jeder Nummer wieder zurück.
Die Raben waren es, die Boyer zu River geführt hatten, berichtete mir Morgan später. Er folgte den Raben, die über den Bäumen kreisten und die Äste eines Zitterpappelhains schwarz färbten, der Chor einer raukehligen Trauergemeinde, die die Totenwache hielt.
Boyer band die aufgerollte Abdeckplane von der Rückseite seines Sattels los. Er wehrte die Aasfresser und die Wolke schillernder Schmeißfliegen ab. Dann bedeckte er vorsichtig das, was von dem Körper übrig war, den er am Rand einer flachen Bergwerksgrube gefunden hatte. Er musste die Polizei anrufen. Und Rivers Mutter. Das war der letzte Dienst, den er ihm erweisen konnte.
Während Boyer in der Küche auf die Ankunft der RCMP wartete, überließ er sich seiner Erschöpfung. Er setzte sich an den Tisch und legte den Kopf auf die Arme. Seine Schultern hoben und senkten sich mit seinen erstickten Schluchzern. Mom stand hinter ihm und schlang die Arme um ihn, als könnte sie so das Beben im Zaum halten. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Kopf. Tränen rollten ihr über die Wangen und in sein Haar, während sie etwas murmelte, was ich nicht hören konnte.
»Oh Gott!«, stöhnte Boyer. »Und ich habe ihn weggeschickt.«
Aber ich war die Verantwortliche. Ich hatte ihn in den Tod geschickt. Ich habe River umgebracht.
»Ein außergewöhnliches Unglück«, sollte die Polizei feststellen, als sie ihre Ermittlungen abschloss. River war in der Dunkelheit über den Grubenschacht gestolpert. Das Loch war so flach, dass er an dem Sturz nicht gestorben wäre. Aber er war mit dem Kopf aufgeschlagen und bei seinem Aufprall gegen den Felsgrund gestoßen. Der Beamte, der den Bericht zu uns herausbrachte, schüttelte den Kopf vor Mitgefühl und sagte: »Er hätte auf allen Vieren herauskriechen können, wenn er den Sturz überlebt hätte.«
Offensichtlich hatte ein wildes Tier, ein Bär oder ein Puma, seine Leiche herausgezogen.
Deshalb kamen die Jäger. Dieselben Jäger, denen mein Vater immer den Zutritt zu unserem Land verweigert hatte. Sie durchkämmten die Berge und nahmen den absurden Unfall zum Vorwand, einen Puma, zwei Schwarzbären und einen Luchs aufzuspüren und zu erlegen. Als sie, ihre Trophäen quer über die Kotflügel gebunden, an unserem Haus vorbeifuhren, war die Familie Ward bereits an einem Punkt angelangt, an dem ihr das nichts mehr ausmachte.
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W ÄHREND B OYER DIE P OLIZEI zu River führte und Mom seiner verzweifelten Mutter am Telefon Trostworte zuzusprechen versuchte, ging ich hinaus zu Boyers Hütte, um River den letzten Dienst zu erweisen, den ich für ihn tun konnte.
Immer wieder spähte ich über meine Schultern in den Busch hinein, jede Regung im Schatten versetzte mich in Angst und Schrecken. Und wenn ich während der langen schlaflosen Nächte seit der Vergewaltigung die Augen schloss, durchlebte ich das Grauen aufs Neue.
Dennoch trieb ich mich an. Ich wusste, dass die Polizei Rivers persönliche Sachen sicherstellen würde. Ich wollte dafür sorgen, dass keine neugierigen Augen seine privaten Tagebücher lasen. Ich würde jegliches Marihuana, das in seinem Matchsack versteckt war, verschwinden lassen. Die Klatschmäuler waren mit genug Stoff versorgt worden. Ich würde nicht zulassen, dass sie noch mehr bekamen.
In der Hütte durchsuchte ich seine Sachen. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich den Reißverschluss des Matchsacks öffnete und die Kleider herausnahm, die nach ihm rochen. Ganz unten in der Tasche fand ich seine Tagebücher und eine kleine Plastiktüte mit gerollten Zigaretten und Zündhölzern. Ich wischte mir die Augen am Ärmel meines Sweatshirts ab, während ich die Tagebücher auf den Tisch legte. Dann öffnete ich das Plastiksäckchen und entnahm eine dünne Zigarette.
War es wirklich erst eine Woche her, dass ich in seinem Zimmer über der Molkerei gesessen
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