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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: River
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hob gerade eine Tasse Tee an die Lippen.
    Ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihr in die Augen zu sehen. »Gute Nacht«, murmelte ich und öffnete die Tür zum Treppenhaus.
    Die Porzellantasse klirrte auf den Untersatz. Ich erwartete, dass sie jetzt fragen würde, wo ich gewesen oder warum ich davongelaufen sei. Diese Fragen kamen nie. Vielleicht hatte Boyer ihr alles erzählt, oder vielleicht wusste sie es einfach so, wie sie ja immer alles wusste. Vielleicht war sie auch zu erleichtert. Oder zu besorgt wegen der Worte, die sie jetzt aussprach und die in meine vorgetäuschte Gleichgültigkeit einschlugen wie ein Blitz: »River hat sich verirrt.«
    Verirrt? Wie konnte er sich verirren?
    »Soweit ich verstanden habe, sind sie auf der Suche nach dir getrennte Wege gegangen«, sagte Mom. »Als Boyer schließlich zur Hütte zurückgekehrt ist, war River nicht da. Aber seine Sachen sind noch dort.«
    Ich beobachtete Moms Gesicht und hielt Ausschau nach Anzeichen von Verärgerung oder gar Bestürztheit, weil River nicht weggegangen war, wie sie es mir gesagt hatte, sondern sich in Boyers Hütte aufgehalten hatte.
    Aber ich sah nur Besorgnis in ihren Augen. »Boyer war sich sicher, dass du am Ende nach Hause kommen würdest«, sagte Mom, »aber River kennt sich in diesen Bergen nicht aus – kennt nicht jeden Grat und jede Schlucht, so wie wir.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nichts. Es gab nichts, was ich hätte sagen können. Es lag keine Anklage in ihrer Stimme, aber ich wusste – und war mir sicher, dass sie es auch wusste –: Wenn River etwas zugestoßen war, wäre das meine Schuld.
    »Boyer und dein Vater gehen wieder hinaus, mit den Pferden, um nach ihm zu suchen«, teilte sie mir mit.
    Ein paar Minuten später sah ich von meinem Fenster aus, wie Dad und Boyer die gesattelten Pferde aus dem Stall führten. Mom eilte hinaus mit einer Thermosflasche und einer Erste-Hilfe-Ausrüstung. Dad stopfte die Sachen in seine Satteltaschen, und dann ritten er und Boyer die Straße hinauf zu unserem hinteren Feld und waren bald außer Sichtweite.
    Ich verkroch mich in mein Bett. Unter Decken und Quilts zu einer Kugel zusammengerollt, lag ich fröstelnd da, während Mom allein unten saß.
    Ich betete, dass River heil zurückkommen möge. Irgendwann setzte mit meinen Gebeten bereits die Verarbeitung ein. Ich ahnte, dass ich nicht aufhören konnte, River zu lieben, ebenso wenig wie ich, als ich mit sechs Jahren erfuhr, dass man seinen Bruder nicht heiraten kann, hätte aufhören können, Boyer zu lieben. Ich würde einfach lernen müssen, River wie meinen Bruder zu lieben.
    Bald hörte ich Morgan und Carl aus der Stadt zurückkehren. »Wir helfen bei der Suche«, sagten sie wie aus einem Munde, nachdem Mom ihnen von River erzählt hatte.
    »Nein«, insistierte sie. »Nein, das werdet ihr nicht. Wir brauchen nicht noch jemanden, der heute Nacht durch den Busch streift.« Ihre Stimme klang fest. »Jemand muss hierbleiben und am Morgen das Melken übernehmen.«
    »Ach, bis dahin wird er sich schon zurückmelden«, sagte Morgan beruhigend.
    Aber er meldete sich nicht zurück. Meine Gebete, alle unsere Gebete wurden in dieser Nacht nicht erhört. Vor Tagesanbruch kam Dad nach Hause. Allein. Er gesellte sich zu Morgan und Carl im Stall. Volle Euter warten nicht, bis Notfälle gelöst sind.
    Unten flüchtete sich meine Mutter in die Alltagsroutine. Ich zog schnell ein Flanellhemd und schlabbrige Hosen an und half. Wir bereiteten schweigend das Frühstück zu, das auf den Tellern kalt werden würde. Speck kräuselte sich zu durchscheinendem Fett, und die Spiegeleier gerannen und wurden hart, während meine Brüder davonstürzten, um Boyer bei der Suche zu unterstützen. Ich ging mit Dad auf die Milchtour.
    Wir fuhren in die Stadt, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Es war lange her, seit ich mit ihm auf die Milchauslieferrunde gegangen war. Würde sich mein Vater an unser Arrangement in der Colbur Street erinnern? Wie konnte ich ihn bitten, die Milch beim Haus der Ryans selbst abzugeben? Wie würde ich sonst die Kraft finden, diese Verandastufen hinaufzusteigen?
    Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Als wir vor dem Ryan-Haus hielten, war es dunkel, die Vorhänge waren zugezogen. Ein weißer Zettel steckte in einer der leeren Flaschen auf der Stufe. Ich wusste, was darauf stand, bevor ich die Veranda hinaufstürmte, mir die Flasche schnappte und dann zum Truck

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