Milner Donna
aufrecht hielt.
Während Boyer um seine Heilung kämpfte und in Vancouver, in der neuen Spezialklinik für Verbrennungsopfer, endlose Hautverpflanzungen und Operationen über sich ergehen ließ, durchlebten wir unsere Tage als verstörte Überlebende. Die Klatschgeschichten gingen weiter. Gerüchte über River und Boyer verwandelten sich in Lügenmärchen. Wir erhielten einen Brief in fehlerhaftem Englisch, in dem Boyer beschuldigt wurde, nach dem Tod seines Liebhabers versucht zu haben, sich durch Selbstverbrennung das Leben zu nehmen. »Wie diese verdammten Buddhamönche, die gegen den Vietnamkrieg protestieren, in dem dieser Drückeberger vor lauter Schiss nicht hat kämpfen wollen«, hieß es da.
Obszöne Anspielungen auf die Beziehung zwischen Morgan und Carl wurden auch über Telefon gemacht. Sie gingen am Abend nicht mehr aus, und die wenigen Freunde, die versuchten zurückzukommen, wurden wieder weggeschickt. Meine Brüder wollten jetzt nichts mehr mit der Stadt zu tun haben und fuhren nur nach Atwood, wenn Post oder Lebensmittel abgeholt werden mussten.
Ich ging in die Highschool und räumte Carls und meinen Spind aus. Für dieses Jahr war ich mit der Schule fertig. Carl war für immer mit ihr fertig. Es war nur gut, dass er sich geweigert hatte, noch einmal zurückzukehren. So brauchte er wenigstens nicht die hässlichen Worte zu sehen, die in die grüne Farbe auf den Metalltüren unserer Spinde eingeritzt waren.
Am Ende des Monats hatte fast die Hälfte von Dads Kunden ihre Milch abbestellt.
Dieser Sommer, auf den ich mich mit so törichten romantischen Erwartungen gefreut hatte, schleppte sich dahin, eine eintönige, mit Hitze gefüllte Jahreszeit. Was in unserer Familie fehlte, war mehr als nur Boyer. Jeder von uns bewegte sich in einsamen Welten durch den Alltag. Unsere Verbundenheit, der Kitt, der uns zusammengehalten hatte, war zerbröselt. Gekünstelte Gespräche, entweder über den Betrieb der Farm oder über Boyers Fortschritte, wurden unsere Art, miteinander zu kommunizieren.
Während Mom in Vancouver war, gewöhnten wir uns an, nur dann zu essen, wenn wir Hunger hatten, und so schnappte sich jeder die Reste von den Mahlzeiten, die von mir täglich zubereitet wurden, und stocherte darin herum. »Grasen« sollte Mom das nennen, als sie nach Hause kam und diesem Treiben ein Ende machte. Sie bestand darauf, dass wir uns bei den Mahlzeiten alle um den Tisch setzten. »Wir müssen zur Normalität zurückfinden«, sagte sie. Aber das sollte uns nicht gelingen.
Unsere Familie wurde isoliert. Abgesehen von ein paar Freunden wurden wir gemieden. Der einzige Gast, der in jenen Tagen an unseren Tisch kam, war Father Mac. Und von Oktober an – Ruth.
Ruth war eines der Mädchen aus Our Lady of Compassion . Sie sollte die letzte Bewohnerin dort sein, bevor das Heim seine Tore schloss. Morgan und Carl freundeten sich mit ihr an, nachdem Morgan eines Nachmittags vor dem Postamt, aus dem er herausgestürmt kam, mit ihr zusammengestoßen war und sie beinahe auf die Granitstufen gestoßen hätte.
Groß und gertenschlank, wie sie war, wies wenig darauf hin, dass sie schwanger war. Morgan begleitete sie an jenem Tag den Krankenhausberg hinauf, und so begann ihre Freundschaft. Er und Carl führten sie jede Woche ins Roxy-Kino aus. Dann fingen sie an, sie zum Abendessen nach Hause zu bringen. Es dauerte nicht lange, bis sich alle zu dem dunkelhaarigen Mädchen von den Queen Charlotte Islands hingezogen fühlten. Ich nehme an, dass sie uns etwas gab, worauf wir uns außerhalb unserer eigenen Qualen konzentrieren konnten. Wir waren uns alle bewusst, wie traurig sie darüber war, dass sie ein Kind austrug, das sie nicht würde behalten dürfen. Dennoch bezauberte sie uns alle mit ihrer stillen Ergebung in das Leben. Selbst ich, die ich so zurückhaltend geworden war, fing an, mich auf ihre Besuche zu freuen.
Als ich nach den Sommerferien wieder in die Schule ging, ignorierte ich die Grüppchen, die die Köpfe zusammensteckten, wenn ich durch die Flure ging. Die mitleidigen Blicke in meine Richtung waren ebenso schwer zu ertragen wie der Tratsch, der mir zu Ohren kam. Ich tat so, als würde ich nichts sehen und nichts hören. Ich tat so, als wäre ich gar nicht da, und versteckte mich hinter formlosen Sweatshirts und Schlabberhosen.
Wenn ich nicht in der Schule war oder mit Dad auf seine immer kürzer werdende Milchtour ging, beschränkte sich meine Existenz auf das Haus und die Molkerei. In den Stunden
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