Mimikry
bis zur nächsten Ecke, wo sie hielt und eine Weile reglos auf die Straße starrte. Früher hatte sie Lust auf Abenteuer gehabt; SIE SIND IMMER LIVE DABEI, stand auf der Homepage der Polizei, Punkt Bewerbung und Ausbildung, DER BERUF IST SO INTERESSANT WIE DAS LEBEN. Früher hatte es auch nicht diese merkwürdigen Zustände gegeben, daß man etwas in sich abdrehte und trotzdem funktionieren konnte und dann nach Hause kam und manchmal spürte, wie sich etwas löste, das ganz starr gewesen war im Innern. Vieles war nicht so, wie es sein sollte.
Sie sah in den Rückspiegel, der Fiat kroch dahin. Sie wendete, fuhr langsam zurück und wartete im Halteverbot, ein paar Meter von dem Haus der Benz entfernt.
Diffuses Licht von zwei Laternen schien die Häuser zu verzerren, sah man nur lange genug hoch. Wie eine zusammengedrückte Mauer sahen sie aus, nirgendwo ein offenes Fenster, nirgends ein Gesicht. In der Ferne ein Bankgebäude wie eine Glocke über der verriegelten Welt. Auf der anderen Straßenseite trennte ein Torbogen die Häuserfront. Schwärze dahinter, Umrisse von Mülltonnen und geparkten Wagen und das Schattenbild einer einzelnen Gestalt. Die Benz kam nur langsam voran, stützte sich auf eine Krücke. Ein Wagen bremste und hupte, als sie über die Straße ging, und hinter der Scheibe machte eine Hand ein unfreundliches Zeichen. Statt schneller zu gehen, blieb sie stehen, stand im Scheinwerferlicht wie ein verschrecktes Häschen.
Sie hatte wohl Schmerzen. Vielleicht lag es an der feuchten Luft, die in die Knochen kroch oder wohin auch immer. Möglich, daß sie den ganzen Tag unterwegs gewesen war, die Hände voller Kram für Mosbach und seine fröhlichen Handlanger, immer wieder den Büroflur herauf und herunter.
Ina Henkel stieg aus, die Benz sah nicht herüber. Sie humpelte um das Haus herum, in einen Hinterhof mit Sträuchern. Langsam ging Ina Henkel hinterher, nur ein Gebüsch war zwischen ihnen. Sie würde jetzt etwas sagen, einfach Guten Abend, irgendwas. Entschuldigen Sie die Störung. Gleich, wenn sie da vorne zu Rande kam, anscheinend gab es Schwierigkeiten, fand sie ihren Schlüssel nicht.
Mit der Krücke tastete sie am Gemäuer herum, machte Licht mit der Krücke. Die Hausnummer leuchtete auf, ein heller Fleck auf der grauweißen Wand. Erneut durchsuchte sie ihre Taschen, erst die linke, dann nahm sie die Krücke in die andere Hand; der Schlüssel steckte in der rechten. Doch sie ließ ihn fallen, ein klirrendes Geräusch auf dem Pflaster. Eine Weile starrte sie reglos auf den Boden. Wieder stützte sie sich auf den Stock, als sie sich bückte, konnte die Knie nicht richtig beugen. Ina Henkel ging zwei Schritte auf sie zu, dann blieb sie wieder stehen; wie sah das denn aus, daß sie so dicht hinter ihr war, hinter Sträuchern verborgen, wie ein Scheusal im Gebüsch. Einfach etwas sagen, etwas Freundliches, Beruhigendes, einfach grüßen. Hinzufügen, daß es nicht lange dauern würde.
Der Schlüssel paßte nicht; wie viele Schlüssel hatte die denn? Einen Augenblick noch wog sie ihn in der Hand, bevor sie hektisch ihre Schultertasche durchsuchte, und als sie den passenden fand, konnte man sie keuchen hören, vor Anstrengung oder vor Erleichterung oder vor Schmerz. Alles war mühsam und schwer. Ina Henkel sah zu, wie sie im Haus verschwand. Jetzt war es zu spät. Um diese Uhrzeit redete man höchstens mit Tatverdächtigen, andere ließ man in Ruhe. Einen Moment lang sah sie sie mitten im Licht stehen, bevor schwere Vorhänge das Fenster in der ersten Etage wieder verdunkelten. Langsam ging sie zu ihrem Wagen zurück und blieb hinterm Steuer sitzen, zu müde plötzlich, um auch nur zu starten.
Das Straßenschild war verbogen, ziemlich weit oben sogar, als wäre jemand extra daran hochgeklettert, um es zu mißhandeln. An der Ecke pinkelte ein Besoffener in einen Blumenkübel, derselbe Kerl wie vorhin, da hatte er sein Ding in eine Abfalltonne gehalten. Psychologen hatten sicher eine Erklärung dafür. Sie fuhr los, legte eine Kassette ein, Smashing Pumpkins, take me down to the underground, there is no light. So gut Englisch konnte sie nicht, daß sie die nächste Zeile verstand.
Als sie ihren Wagen vor der Kneipe parkte, versuchte sie zwischen all den Türmen das Haus zu finden, in dem Fried gewohnt hatte; irgendwo steckte es, zwischen diesem da und jenem.
Der Wirt lächelte, als sie die Kneipe betrat. »Hat sich was ergeben?«
Darauf sagte man nichts. Sie sah sich um. Vor dem Klo brabbelte eine
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