Mimikry
schaffte sie, ohne aufzufallen. Es war ihr schon passiert, daß sie an der Ampel nicht gleich weggekommen war, obwohl sie Automatik hatte, doch jetzt ging alles gut. Heute schmerzte das Bein auch nicht so sehr, nur der Grundschmerz, der pochte. Als sie auf das Haus zuging, dieses häßliche Haus, hörte sie ihren Namen. Sie blieb stehen, glaubte es nicht sofort. Theresa Jung hatte auch schon Stimmen gehört, weil sie ganz allein gewesen war, Stimmen im Kopf. Sie sah hoch. Stocker und die Henkel kamen auf sie zu.
41
Eine enge, kleine Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad. Die Benz führte sie ins Wohnzimmer und murmelte, sie könnte Tee kochen.
»Nein, es dauert nicht lange«, sagte Ina Henkel. Die Benz starrte sie an und sah dann wieder weg.
Nichts lag herum, nur ein paar Zeitschriften auf einem niedrigen Tisch, penibel übereinandergelegt wie Karteikarten, Vogue, Allegra, marie claire. Ein Sofa und zwei Sessel vor einer Schrankwand, eine kleine Palme in der einen und ein Fernseher in der anderen Ecke. Das Telefon stand auf einer Art Fußbank neben der Tür, wo keine Sitzgelegenheit war. Die Schnur war sorgsam aufgewickelt und mit einer Klemme befestigt worden; entweder machte sie diese Prozedur nach jedem Telefongespräch oder sie telefonierte im Stehen. Oder gar nicht. Ein paar Bücher auf einem schmalen Gestell, Lexika, Bildbände, Das Superweib, Der Pferdeflüsterer, Single? Nie wieder!
»Möchten Sie sich setzen?« Die Benz war mitten im Raum stehengeblieben. Flüchtig wies sie auf das Sofa, sagte: »Ich ziehe hier bald aus.«
»Nun, Frau Benz«, begann Stocker. »Ich weiß, wir sind lästig, aber hier redet es sich doch leichter.«
»Ich könnte – ein Wasser?«
»Nein, nein, nicht nötig.« Stocker lächelte.
Jemanden in dessen eigener Wohnung aufzufordern, sich zu setzen, war so daneben, als sang man ein Weihnachtslied mitten im Mai. Stocker tat es dennoch, und die Benz nickte, als hätte sie darauf gewartet. Er fing damit an, daß sie Hilfe brauchten, sein Lieblingssatz. Ina Henkel achtete kaum auf die ersten Antworten, weil sie nicht aufhören konnte, auf das Telefon zu starren, die aufgewickelte, festgezurrte Schnur. Das Zimmer sah aus, als wäre der Mensch, der hier wohnte, verreist.
»– habe Julia nur wenig gekannt«, hörte sie die Benz sagen. »Und Martin noch weniger. Ich hab doch schon alles gesagt.« Die Hände auf den Knien hockte sie auf der Kante dieses klobigen Sessels und sah sich um, als sei sie bei sich selbst zu Besuch und wollte wieder gehen.
»Frau Benz –« Stocker sah sie aufmerksam an. »Sie sehen die Unterlagen für Mosbachs Sendung, ist das richtig?«
Sie nickte.
»Können Sie sich an einen Mann namens Pilcher erinnern?«
»Nein«, sagte sie.
»Er wurde abgelehnt, das war ihm nicht so recht.«
»Ja«, sagte sie. »Das kommt vor. Meistens kommen sie dann in einer anderen Talkshow unter.«
»Sind Ihnen irgendwelche Querulanten begegnet, Leute, die Ihnen aufgefallen sind? Im Publikum vielleicht?«
»Eigentlich nicht.« Sie verschränkte die Arme. »Das ist kein richtiges Publikum. Ich meine, das ist schon Publikum, aber die fahren überallhin, da gibt es Zuschauerbeschaffungsunternehmen.«
»Bitte?« fragte Stocker.
»Ja sicher. Busreisen. Unternehmen, die die Leute zu den Sendungen bringen, damit Saalpublikum da ist. Mal hierhin, mal dahin.« Sie sah auf den Boden. »Ich ordne die Unterlagen der Teilnehmer. Ich hefte die ab. Das müssen Sie alles Gabriel fragen. Oder die Redaktion, aber da waren Sie doch schon, oder?«
»Wissen Sie von Julias Tagebuch?« fragte Ina Henkel.
Die Benz sah sie an, dann sah sie wieder weg.
»Ja? Wissen Sie davon?«
»Träumerei«, flüsterte sie. »Das ganze schöne Leben hat sie sich ausgemalt. Das war halt Gabriel für sie, das schöne Leben.« Sie lächelte plötzlich, sagte: »Himmel und Hölle, so hat sie’s genannt.«
»Ja«, sagte Ina Henkel. Sie holte Luft. Dreißig Jahre bis zur Rente. Dreißig Jahre noch das Gestammel der Gestörten. »Hat sie Ihnen von diesem Tagebuch erzählt?«
»Ich hab das mal zufällig gesehen«, sagte die Benz. »Sie hat nicht darüber gesprochen. Es lag offen da herum. Dann hat sie es weggepackt.«
»Wenn man das Tagebuch liest, muß man annehmen, sie hätte eine Beziehung mit Mosbach gehabt.«
»Sie hätte es mir erzählt.« Die Benz nickte vor sich hin. »Dann hätte sie auch nicht angerufen, dann hätte sie ja jemanden gehabt. Manchmal hat sie mich im Büro angerufen und wollte sich mit mir
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