Mimikry
nichts geschrieben. Welches Datum brauchen Sie denn?«
»Kein bestimmtes«, sagte Stocker. Er wandte sich zur Tür. »Für heute, denke ich, war’s das.«
Hilmar ließ das Tagebuch auf den Boden fallen. Er lächelte und deutete zur Tür, zu den letzten Fotos. »Ist mein Anzug da. Und das« – er zog die Pelzjacke über der Brust zusammen – »ist seine Jacke.« Er legte den Kopf zurück und blinzelte ins weiße Licht. »Warum regen Sie sich so auf, Frau – ehm – wie heißen Sie eigentlich?«
Draußen wußte sie nicht mehr, ob sie ihm ihren Namen genannt hatte. Vielleicht hatte Stocker es getan. Als sie auf den Wagen zugingen, sagte sie: »Ich hab mich ein bißchen erschrocken, weil –«
»Ja, haben Sie.«
»Weil es so plötzlich kam. Ich hab nicht damit gerechnet.« Sie streckte die Hand aus. »Sonst weiß ich ja, ich meine, kann ich mich – rechne ich damit, geben Sie mir die Schlüssel?«
»Es waren doch nur Fotos.« Er kramte in seiner Hosentasche. »Vielleicht machen wir die Gegenüberstellung, obwohl ich mir nichts davon verspreche. Der konnte den doch kaum beschreiben, oder?«
»Wer?«
»Der Nachbar.« Stocker klang ungeduldig. »Frieds Nachbar.«
»Was ist mit dem?«
»Fahren Sie heim.« Er reichte ihr die Autoschlüssel. »Ich lauf zur U-Bahn.«
»Wieso? Ich muß Sie doch immer fahren.«
»Nein, ich will in die andere Richtung. Möchte meine Frau abholen, die ist bei einer Freundin. Der Junge ist dabei, der soll ins Bett.«
»Ja«, sagte sie. »Dann machen Sie das mal.«
»Ich wüßte nicht, was wir im Moment noch tun sollten.« Er zog die Schultern hoch. »Oder?«
»Nein.« Sie sah ihm hinterher, bis er verschwunden war, dann guckte sie auf den Autoschlüssel in ihrer Hand wie auf ein vom Himmel gefallenes Ding. Hinter ihr sagte jemand leise: »Den steckt man ins Schloß, dann startet man den Motor damit. Dann fährt man los.«
Frank Hilmar hatte grüne Augen. Das war ihr drinnen nie aufgefallen, erst jetzt, in diesem Dämmerlicht hier draußen. Grün wie der Einband seines Tagebuches.
»Ich hab was Nettes, kommen Sie mal.« Er ging zum Haus zurück. Neben den Mülltonnen war eine kleine Mauer, darauf hatte er ein Glas abgestellt. Er stand etwas schief und unter der schwachen Beleuchtung sah der Inhalt bräunlich aus, doch als sie näher kam, verwandelte er sich in flüssiges Gold.
»Was wollen Sie, was soll das?«
Er kam näher, befühlte mit zwei Fingern ihre Lederjacke. »Gutes Jäckchen. Superweich.« Dann nahm er das Glas von der Mauer und reichte es ihr.
Sie schüttelte den Kopf.
»Sherry!« sagte er feierlich. »Mein bester. Sind nur zwei Schlückchen, damit kommen Sie bestimmt nicht in den Promillebereich. Ich hab auch nichts reingetan.«
»Machen Sie das immer so? Werden die Leute bei Ihnen auf der Straße bewirtet?«
»Stärkung.« Er bewegte das Glas vor ihren Augen hin und her, ließ das Gold tanzen. »Sie brauchten eine große, ich hab hier die kleine.«
»Warum machen Sie das?« Ihre Stimme zitterte, sie räusperte sich. »Schlafen Sie – da? In dem Zimmer?«
»Sicher«, sagte er. Aus der Mülltonne guckte das Bein einer Jogginghose heraus, schlaff und tot.
»Aber Sie können doch nicht –« Sie schüttelte den Kopf.
»Doch, ich kann.« Er lachte.
»Immer die Fotos, immer –«
»Ja, ist doch okay. Ich fotografiere gern.«
»Sie vermissen ihn. Darum –« Sie merkte, wie ihre Stimme zitterte. Husten half nicht.
Aufmerksam sah er sie an. »Das heißt jetzt aber nicht, daß ich mich nicht mehr umgucke. Ich hör nicht auf zu leben.«
»Aber warum hängen Sie die Fotos auf? So vergrößert? Nein, geht mich nichts an.«
»Kleine Fotos wirken doch gar nicht an der Wand.« Wieder lachte er. »Sie stecken lieber den Kopf in den Sand.«
»Nein, tu ich nicht. Kann ich ja gar nicht.« Vorsichtig streckte sie die Hand aus, drehte das kalte Glas zwischen den Fingern und stellte es auf die Mauer zurück.
»So mißtrauisch?« fragte Hilmar.
»Berufserfahrung.« Sie kicherte, stieß einen alten Schuh weg, der vor der Mülltonne lag.
»Er ist vielleicht glücklich gestorben«, sagte er.
»Niemand stirbt glücklich.«
»Wissen Sie das so genau?«
»Ja, weiß ich.« Sie konnte nicht ruhig stehen. Hin und herlaufend drückte sie die Deckel der Tonnen zu, bis nur ein Rest von diesem Hosenbein noch herausguckte, dunkelblau, naß und durchlöchert. »Ich seh’s doch.«
»Was sehen Sie?«
»Den ganzen Dreck.« Sie blieb stehen. Eine Katze weinte irgendwo. Hier
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