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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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Er schob die Videos ins Regal und drückte die flache Hand dagegen, damit sie ordentlich aneinanderstanden. So blieb er stehen, mit gesenktem Kopf, eine Hand am Regal. »Belästigen Sie immer Nachbarn, die Ihre Nachbarn nicht beweinen? Da wären Sie ja strenggenommen in der ganzen Stadt unterwegs. Von morgens bis abends, sieben Tage die Woche. Die arme Seele hat die Liebe gesucht und hatte keine Ahnung was das ist. Vorstellungen, oh ja, Riesenphantasien –« Er drehte sich um. »Erzählt was von Kerzen und Mondschein.«
    »Sie reden von Frau Bischof?« fragte Stocker.
    »Sie nicht?« Mit den Fingerspitzen strich Hilmar über seine Pelzjacke und zupfte ein paar Fasern aus. »Richtig falsch.«
    »Was meinen Sie?« fragte Ina Henkel. »Was ist los mit Ihnen?«
    »Richtig falsch. Hat mein Freund gesagt. Trödel, billiger Scheiß, aber schrill. Richtig falsch halt. Ist seine Jacke.« Er hob die Schultern. »Okay, Sie brauchen mein Alibi? Ich führe Tagebuch, ich kann Ihnen Rechenschaft über jeden einzelnen –« Er riß die Tür auf und rannte in den Flur hinaus. »Ich bin es leid, dieses Geschwafel, ich hab das nicht nötig.«
    Die Küchentür stand offen, diffuses Licht erhellte einen silbrigen Toaster. Aus der Ferne dröhnten Hupen und Stimmen wie nach einem gewonnenen Fußballspiel. Leute lachten irgendwo. Die Tür neben der Küche war geschlossen, und Hilmar wischte sich die Hand am Hosenbein ab, bevor er sie öffnete, dann zuckte das Licht wie ein Blitz. Grelles Licht aus einem Deckenfluter fiel auf einen Schrank, einen Stuhl, ein Bett, auf vollgepflasterte Wände. Hilmar kniete sich vor den Schrank, riß eine Schublade auf. Stocker machte ein Geräusch als unterdrücke er ein Niesen.
    Riesige Fotos an den Wänden, wie Poster, sie zeigten einen Mann. Er lachte, posierte, stand vor einer Kirche, lag auf einer Wiese, winkte vom Motorrad herunter und aß ein Eis am Strand. Immer derselbe Mann; die Fotos liefen vom Fenster bis zur Tür, von links nach rechts, wenn man das Zimmer betrat, rechts lag er im Bett, mit eingefallenen Wangen. Dieses Bett hier, dieses Zimmer. Mal hatte er die Decke hochgezogen bis zum Kinn, mal guckte ein Arm heraus, ein Arm wie ein Stöckchen so dünn. Mal lächelte er und sah dann aus, als meinte er das auch, vielleicht weil er fotografiert wurde und weil man dann lächelte. Links lebte er, rechts sah man ihn sterben. Auf dem letzten Foto trug er einen dunklen Anzug – oder dem ersten, wenn man gleich nach rechts sah. Die Spitzen seiner schwarzen Schuhe reflektierten das Blitzlicht. Die Bettdecke war weg und seine Hände waren auf der Brust gefaltet.
    Ina Henkel schrie auf, als sie das letzte Foto sah, doch es war kein wirklich lauter Schrei. Es war der Schrei eines Kindes im Dunkeln, wenn ein Schatten zu leben beginnt, Beine kriegt und mit böser, zischender Stimme flüstert: Ich hol dich, ich hol dich, ich hol dich und nur der Schrei ihn übertönt, Nein, nein, nein!
    Sie drehte sich um und sah ihn wieder leben; links lebte er und rechts war er tot.
    Hilmar hatte gefunden, was er suchte, hielt etwas in der Hand, als er auf sie zukam, etwas Grünes. Er war größer als sie, beugte den Kopf, schob ihr eine Faust unters Kinn und sagte: »Hey.«
    Stocker starrte die Wände an und fing an zu husten.
    »Schauen Sie mich an«, sagte Hilmar.
    Ina Henkel ging einen Schritt zurück, und einen Moment lang sah sie noch die Hand, die er ihr unters Kinn geschoben hatte, als schwebe sie ohne Körper durch die Luft.
    Das grüne Ding in Hilmars anderer Hand war aus Leder und sah aus wie früher ihr Poesiealbum ausgesehen hatte, vollgeschmiert mit Erbauung, Immer wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Sie murmelte: »Tagebücher verwerten wir nicht, wenn es sich nicht um ein Opfer handelt.« Sie sah Stocker an. »Stimmt, doch, oder?«
    »Ja, ja«, murmelte Stocker. »Ehm, ist das Ihr –«
    »Mein Freund«, sagte Hilmar. »Jörg. Siebenundzwanzig Jahre gelebt, ein Jahr lang gestorben. Hier. Letzten Rest dann Klinik. Allerletzte Tage dann wieder hier. Hat mir immer unterstellt, ich hätte Angst vorm Schminken. Ich hab keine Angst, ich finde es nur albern. Ich mag keine Tunten.« Er begann in dem grünen Buch zu blättern. »Zwoundzwanzigster Januar.« Er räusperte sich, schlug die Seite um. »Drei Uhr fünfzehn. Er sieht fröhlich aus.« Er klappte das Buch zu. »Na und so weiter. Ich habe alles aufgeschrieben. Jeden Tag, jede Stunde. Nur wenn ich geschlafen habe, hab ich

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