Mimikry
darunterliegender Rhythmus dann die Schritte auf der Treppe, hastige, hallende Schritte hier oben vor der Tür. Ein dumpfes Geräusch, als drücke sich ein Körper dagegen.
Ina Henkel ging auf die Tür zu, stellte sich seitlich davor. Früher hatte sie im Fernsehen Krimis gesehen, dann hatte sie damit aufgehört. Früher war sie nachts durch dunkle Ecken gerannt, doch seit sie Polizistin war, kam es vor, daß sie sich verkrampfte, sprach sie auf der Straße jemand unvermittelt an.
Die Schritte verharrten. Sie wartete. Im Prinzip, hatte ihr Chef einmal gesagt, könne man jeden Tag erschossen werden.
Wer immer es war, er hatte keinen Schlüssel. Etwas raschelte, dann war es still. Ina Henkel schob eine Hand in die Jacke und riß die Tür auf, stolperte über einen Blumenstrauß, der auf der Fußmatte lag. Weiße Lilien, Wasser tropfte von den Stielen; sie machte einen Schritt zuviel und trat auf eine Blüte. Auf dem Treppenabsatz stand eine Frau und preßte beide Hände auf den Mund. Sie starrten einander an, bis die Frau fragte: »Wer sind Sie denn?«
Sie war stark geschminkt. Auf ihren Wangen lag so viel Rouge, als sei sie nicht geübt darin, als schminke sie sich nur zu besonderen Gelegenheiten und als kämen diese Gelegenheiten viel zu selten. Sie zog ein Papierknäuel aus ihrer Manteltasche, auf dem der Schriftzug des Blumengeschäftes zu erkennen war. Wie zum Beweis, daß die Blumen frisch waren, hielt sie es in die Höhe.
Ina Henkel tastete nach ihrem Ausweis und blickte einen Moment lang auf den Spion gegenüber, dem undurchdringlichen Auge auf Frank Hilmars Tür.
»Polizei?«, fragte die Frau.
»Ja.«
»Inspektorin?«
»Eh, nein.« Sie steckte den Ausweis wieder ein. »Die gibt’s beim Finanzamt, glaub ich.« Sie berührte die Frau am Arm. »Können wir mal kurz reden? Würden Sie in die Küche gehen?«
»Ich soll da rein?« Die Frau zögerte. »Das Wohnzimmer ist wohl zu grauslich«. Mit kleinen Schritten ging sie durch den Flur, fand die Küche sofort. »Oder ist es im Schlafzimmer passiert? Ja, was sind Sie denn dann, Kommissarin?«
»Ja.«
»Sie sind recht jung dafür. Ist es im Schlafzimmer passiert?«
Ina Henkel schüttelte den Kopf. Die Frau sah sie an, als hätte sie eine andere Antwort erwartet.
»Julia und ich waren früher ein bißchen befreundet. Wir waren mal Kolleginnen, ich bin dann woanders hin. Ich habe es von der Telefonistin erfahren – wurde sie vergewaltigt?«
»Nein. Sagen Sie mir Ihren Namen?«
»Vera Seifert«, sagte sie schnell, dann war es still.
»Ich suche Julias Leben«, sagte Ina Henkel.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich weiß so wenig von ihr.«
»Es gibt nicht viel zu wissen.« Vera Seifert guckte auf den Kachelboden, zählte vielleicht die Staubflusen, die da lagen. »Daß gerade Julia so enden mußte, ich glaube das nicht. Sie ist doch nie umhergezogen. Macht es Ihnen noch etwas aus, immer nur Tote zu sehen? Können Sie da noch essen?«
»Nie umhergezogen?« Ina Henkel sah aus dem Fenster; zwei Kinder zankten, gestikulierende kleine Arme flogen durch die Luft. Manchmal kam man weiter, wiederholte man, was der andere gesagt hatte. Manchmal erwiderte der andere, das hätte er doch gerade gesagt.
»Sie antworten nicht auf persönliche Fragen.« Vera Seifert hatte noch immer den Kopf gesenkt. »Julia war viel zu Hause. Sonst war sie ganz normal.«
»Was bedeutet das?«
»Normal eben. Sie suchte jemanden, Sie wissen schon, mit dem sie zusammensein konnte. Aber dann hat sie – so normal war das vielleicht doch nicht – hat sie sich keine Mühe gegeben. Ich habe ihr immer wieder gesagt, die klingeln nicht bei dir und stellen sich vor. Ich habe gesagt, du mußt schon etwas unternehmen.«
»Hat sie etwas unternommen?«
»Na eben nicht. Sie wollte raus und wollte doch nicht, sie war immer so unentschlossen. Sie hätte auch umziehen können, in eine größere Wohnung, sie hat genug verdient. Aber sie konnte sich nicht aufraffen, hat gemeint, ach, das reiche ihr doch. Dieses blöde kleine Loch hier.«
»Hatten Sie gemeinsame Bekannte?«
»Ach was. Nein.« Vera Seifert holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche und riß es in Fetzen.
»Kennen Sie die Nachbarn hier?«
»Hier? Julias Nachbarn, wieso?«
»Zum Beispiel den von gegenüber?«
»Keine Ahnung.« Vera Seifert starrte ins Leere, während die Temposchnipsel wie Schneeflocken zu Boden fielen. »Was passiert jetzt mit der Wohnung? Nehmen Sie alles mit?«
»Suchen Sie etwas?«
»Ich weiß nicht
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