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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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versetzt. Doch sie wollte wohl nicht. Vielleicht war sie im Zimmer herumgelaufen wie in einer Zelle, immer auf und ab und hin und her, denn sie stand so eng ans Fenster gedrückt, als hätte nur das geschlossene Fenster sie davon abgehalten, weiterzugehen. Sie rollte Haarsträhnen um den Finger, stand völlig bewegungslos da. Wahrscheinlich niemand bei ihr, sicher kein Laut in der Wohnung, nur der Fernseher, den man irgendwann nicht mehr hörte. Vielleicht summte es in ihren Ohren, das war die Stille um sie herum. Biggi umklammerte das Steuer, sie wollte nicht hinsehen, nicht dahin, denn das lohnte sich nicht.
    Sicher war das eine wie Julia, guckte sich das Leben an, wollte raus und kriegte es nicht hin. Vielleicht war Biggi einmal ähnlich gewesen, früher, jetzt nicht mehr, längst nicht mehr. Früher hatte ihre Mutter gesagt: Hock nicht immer so herum. Da war sie für sich gewesen, das hatte sich so ergeben. Heute war es anders. Sie fing an zu begreifen, was das richtige Leben war, und das Leben war ja da und lag bereit, war wie ein dampfender Teller, wenn man Hunger hatte. Es mußte nur gelebt werden; Julia hatte das nie begriffen. Sonntags hatte sie Biggi zum Kaffee eingeladen oder zu irgendeinem dämlichen Spaziergang, auf dem man alte Tanten traf und Pärchen. Biggi hatte sich nicht wohl gefühlt in Julias Gegenwart, alles war drückend gewesen, man bekam keine Luft. Julia hatte sich dauernd beschwert, daß Kollegen alles ohne sie machten und ihr gleichwohl die ganze Arbeit zuschoben, sie sei doch kein Kuli. Immer gejammert. Biggi überlegte, ob sie das der Henkel sagen sollte. Daß Julia nicht stark gewesen war und alles nur erduldet hatte, ihr Leben hatte keiner richtig wahrgenommen und später auch niemand ihren Tod. Aber für die Ermittlungen der Polizei war das wohl nicht von Bedeutung.
    Sie sah noch einmal hin, zu diesem Haus auf der anderen Seite. Die Frau am Fenster bewegte sich kaum. Sie stand nur da.
    Bei der Henkel waren die Fenster jetzt geschlossen und die Jalousien halb heruntergelassen. Sicher ging sie noch aus. Einmal sah man kurz einen Schatten, dann gar nichts mehr.

15
    Sie warf die Fernbedienung auf den Boden und ging in die Küche. Sieben Flakons standen auf dem Tisch, und Ina Henkel öffnete sie alle, jeder Mensch hatte seinen Schatten, soviel wußte sie inzwischen, weil es nötig für ihn war. Bei der Sitte hatte sie einmal mit einem Kerl zu tun gehabt, Neumann. Der hielt das Glück für einen Strand auf Tahiti. Während der Vernehmung zog er plötzlich Fotos aus seiner Hosentasche, zerknitterte Zeitungsausschnitte: da wollte er hin. Zu sehen war bloß ein Sonnenschirm an einem Strand, Meer im Hintergrund, viel Himmel. Neumann erklärte: »Das ist Tahiti.«
    Ina Henkels Kollege hatte gelacht und gemeint, das sähe aber eher nach den Malediven aus.
    »Nö«, sagte Neumann. »Tahiti. Erzähl keinen Scheiß.« Mehr sagte er nicht. Auf jede einzelne Frage, die sie ihm stellten, wedelte er als Antwort mit seinen Ausschnitten: Tahiti. Sonne, Himmel und Meer und viele nackte Negerinnen. Holzhüttchen wollte er sich bauen, auf Tahiti.
    »Brauchen Sie das?« hatte sie ihn schließlich gefragt, worauf Neumann nickte und sagte: »Ja. Brauch ich.« Also gut. Wer einen Schatten hatte, brauchte ihn auch.
    Sieben Flakons von derzeit einundzwanzig, ein unnatürlicher Drang zum Parfümkauf, doch jeder Duft erzählte Geschichten. Sieben blöde kleine Träume. Siebenmal Kitsch, Küsse in einer Nacht am Meer, so ein Ziehen im Bauch und nur ein leichter Wind auf der Haut, siebenmal Leben, doch manchmal schwebten die Toten unter der Decke. Sie sah hoch; ein dünner schwarzer Strich lief von der Deckenlampe bis zum Fenster wie ein Kabel, an dem einer hing. Der Tote im Ostend.
    Hing mit seitlich baumelndem Kopf, hing an einem Kabel, das um einen Haken in der Decke geschlungen war, und sein Blick verfolgte sie in jede Zimmerecke, obwohl die toten Augen ja gewöhnlich gar keinen Ausdruck hatten, an ihr vorbei ins Leere blickten, ins Nirwana oder in die Hölle, in ein Reich, das Lebende nicht sehen konnten, doch dieser Mann erzählte ihr von dem Abgrund, in den er sah. Stocker sagte, daß der Haken in einem Achter-Dübel stecke und daß ein Achter-Dübel einen Menschen doch gar nicht tragen könne.
    Sie sprang auf, hinter ihr krachte der Stuhl auf den Boden, und sie sagte: »Paß auf«, als der Kater auf den Tisch hüpfen wollte, sagte es viel zu laut in die stille Küche hinein, » Paß auf. «Sie schaltete das

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