Mimikry
Deckenlicht aus, und der dünne Schatten verschwand. Nur die Stehlampe brannte jetzt noch. Null Uhr vier auf der Digitaluhr am Herd.
Im Duden gab es nette Worte für Sterben und Tod: entschlummern, aus der Welt gehen, sein Leben vollenden. Tod und Sterben hatte sie als erstes nachgeschlagen, als Mark, ihr Exfreund, ihr den Duden für sinn- und sachverwandte Wörter schenkte, weil er der Ansicht war, sie könne sich nicht so gescheit ausdrücken – für immer die Augen schließen, den Weg allen Fleisches gehen. Ob er sich vorstelle, hatte sie wissen wollen, daß sie jetzt bei jedem Gespräch, nein, falsch, bei jeder beschissenen Konversation dieses Ding zücken würde? Trotzdem guckte sie nach Tod und Sterben, Ableben, Heimgang, ewige Ruhe. Sie kannte aber keine Ruhenden, auch keine Entschlafenen, nur Krepierte, Zerstörte, verreckt und vermüllt, mit all den Schmerzen in den Zügen, Schmerzen, die sie mit ins Grab nahmen, für immer, für ewig.
Sie sammelte die Flakons ein, die sie wie eine Fernsehkandidatin auseinanderhalten konnte, Joop, Kenzo, Jean Paul Gaultier, nicht nur diese sieben hier, alle, die sie besaß, Dune, Sun oder Fahrenheit, das nach den durchtanzten Nächten roch, als man sich immer wieder neu verliebte, bis zum nächsten Morgen.
Man sollte wieder tanzen gehen. Eine Woche Urlaub, Tanz und Wein. Nachts tanzen, tagsüber Klamotten kaufen. Schlafen, wenn man älter wurde.
Es war sonderbar, Leichen zu berühren, so, als taste man nach etwas Verbotenem, als dürfe man nicht. Sie verrieb zwei Tropfen Fahrenheit im Nacken und schloß die Augen, bis sie die Schritte hörte, ein merkwürdiges Scharren direkt unterm Fenster. Nur diese holprigen Schritte, sonst kein Geräusch. Sie hob den Kopf, als sie plötzlich verharrten, saß so lange reglos da, bis sie sie wieder hörte, plumpe Schritte, sie gingen vorbei.
Ihre erste Leiche war ein erschossener Mann gewesen. Die erste amtliche Leiche, nicht so wie bei der Sitte, wo man gelegentlich tote Junkies sah oder totgeprügelte Huren und sich umdrehen und sagen konnte: Mordkommission kommt. Sie hatte im Betrugsdezernat begonnen und war bei der Sitte zur Kommissarin ernannt worden. Mit der Beförderung zur Oberkommissarin war sie zur Mordkommission versetzt worden, und die erste amtliche Leiche hatte drei Tage in der Wohnung gelegen, wie Julia Bischof jetzt. Nicht so viel Blut wie bei Bischof, dafür Hirnflüssigkeit überall auf dem Teppich. Sie hatte gedacht, auslaufende Hirnflüssigkeit gäbe es nur in Kriminalromanen. Die war auch nicht grau, wie sie einmal gelesen hatte, sie sah ein bißchen aus wie Sperma, etwas wäßriger. Als Stocker meinte, damit müsse sie jetzt klarkommen, hatte sie »Ja sicher« gemurmelt, Zeug, das man sagte, vielleicht auch »Ja klar«. Sie wollte Hauptkommissarin werden, weiterkommen.
Als sie aufstand, kam sie an der Küchen-Pinnwand vorbei, schnippte mit einem Fingernagel gegen eins der Gesichter und es gab keine Dellen. Manchmal drückte man einen Finger in die Haut von Leichen, und die Druckstellen gingen nicht zurück. Dem Pathologen sagte das etwas, sie hatte vergessen, was.
Null Uhr dreißig, alles ruhig jetzt. Eine Autotür, nur ein fernes Geräusch. Mosbach hatte sie für den nächsten Tag notiert, der Zettel fiel aus ihrem Notizbuch, als sie es in die Tasche schob. Ihr Notizbuch war voll von losen Zetteln, Strichmännchen und Fragezeichen, Zeugenaussagen, kleinen schwarzen Kreuzen und abgehakten Listen. Auf den letzten Seiten hatte sie Fremdwörter notiert und Sätze aus dem Pathologiebuch, » Calvaria: knöchernes Schädeldach, siehe Schädelbasisfraktur « .
Siehe Bischof; die Druckstellen auf Bischofs Kopf hatten wie zerfranst ausgesehen, blaue Male überall, Beulen und Flecken, geöffneter Mund. Sie blätterte weiter: » Bei Muskelanstrengung kurz vor dem Tod kann die Totenstarre so schnell einsetzen, daß sie die Stellung im Augenblick des Todes festhält. «Das stimmte. Sie hatte Tote gesehen, bei denen man denken konnte, sie würden noch irgend etwas tun, winken vielleicht, ein Glas halten oder einen Ball treten. Gefrorene Pantomimen, wie Schnappschüsse, wie ein ewiges Gebärdenspiel. Sie sah Tote in ihren Wohnungen und in U-Bahnschächten, auf Waldwegen, in Gebüschen und Hinterhöfen, manchmal in ihrem eigenen Schlafzimmer, wenn die Nacht zu kurz gewesen war und sie aufwachte und sich nicht orientieren konnte, sie haßte alle Leichen.
Sie öffnete das Fenster und atmete die kühle Nachtluft ein. Irgendwo
Weitere Kostenlose Bücher