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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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frühmorgens nach Hause und der Aufzug steckt. Stehen Sie dann blöd rum. Ich meine, es spielt ja gar keine Rolle, ob Sie da über die ganze Stadt gucken können – eine Freundin von mir ist mal nachts nach Hause gekommen, steht im Aufzug und neben ihr so ein Arsch, der fängt plötzlich an, sich einen runterzuholen, Türen zu und alles, da ist dann erst mal Feierabend, wie muß ich denn jetzt fahren?«
    »Hier nach links. Da vorne.« Stocker löste den Gurt. »Haben Sie Ihr komisches Riechöl dabei?«
    Sie atmete so tief ein, als wäre das für lange Zeit der letzte Sauerstoff. »Ich hab –«
    »Ja?« Er sah sie nicht an.
    »– gewußt, das das mal kommt.«
    »Ja, das gibt’s öfter«, sagte er.
    Das Haus sah aus, als sei es festlich angestrahlt. Zwei grünweiße Wagen davor mit rotierendem Licht, ein grauer Kastenwagen ohne. Einen Augenblick lang sahen sie hin, ohne sich zu rühren. Dann nahm sie den Flakon aus ihrer Tasche, ließ etwas in die Handfläche tropfen, verrieb es unter der Nase. Sie reichte Stocker die Flasche, und er machte dasselbe. Sofort roch der ganze Wagen nach Menthol. Die Scheibenwischer jaulten, fast ein Klageton. Regen klopfte aufs Dach, ein hämmerndes Geräusch, aber so stark regnete es doch gar nicht, vielleicht war es das Herz.
    Leute standen vor dem Eingang, Nachbarn. Sie standen mitten im Regen und guckten auf das Haus, als müßten sie Abschied nehmen. Eine Frau rief ihr Kind, drückte sein Gesicht gegen ihren Bauch. Zwei Männer in Hausschuhen hatten die Arme hinter dem Rücken verschränkt und sahen ihnen mit starren Augen entgegen. Ein Mann mit Mozartzopf lehnte an dem grauen Kastenwagen, das Gesicht zum Himmel erhoben, die Augen geschlossen. Hinter dem Steuer saß einer über ein Buch gebeugt, hatte die Handflächen auf die Ohren gepreßt. Der Beamte Hieber kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
    »Tja«, sagte Stocker.
    »Herr Stocker, ich mußte mal Luft holen, Jesses, Frau Henkel, wir zwei haben ein Pech in letzter Zeit.« Er hatte seine Uniformjacke ausgezogen, sein Hemd war naß vom Regen, seine Stirn vom Regen und vom Schweiß. Er sah Stocker an. »Wenn’s einreißt, reißt es ein, sage ich immer, Sie waren bei den Brüdern gar nicht dabei, nicht? Die vom Dach runter sind.«
    »Nee.«
    »Quasi eine Pechsträhne.« Hieber nickte. »Erster Stock. Immer der Nase nach. Kommen Sie, man verläuft sich schnell, es ist dunkel da drin.« Mit einem tiefen Seufzen zog er seine Jacke wieder an, und zu dritt schoben sie sich an den Leuten vorbei, die zurückwichen und sie anstarrten; ein Mann sagte: »Vroma.«
    »Wie?« Stocker blieb stehen.
    Der Mann nickte.
    Im Haus war es still. Auf den Treppenstufen hörten sie nur ihre Schritte und ihren Atem. Ina Henkel fragte: »Wieviel Stockwerke gibt es hier?«
    »Viel zu viele«, murmelte Hieber hinter ihr.
    Stocker nahm zwei Stufen auf einmal, und sie rief: »Haben Sie ein Date mit dem? Rennen Sie nicht so.«
    »Sie dürfen nicht so enge Röcke anziehen.«
    Der Geruch war da, als sie aus dem Treppenhaus in den ersten Stock kamen. Sie blieben stehen, hörten nur noch ihren Atem.
    Zu der Wohnung führte ein enger, dunkler Gang, Tag und Nacht brannte hier das Licht. Vor der angelehnten Tür ein Beamter; nicht direkt davor. So weit es ging davon entfernt. Die Tür war aufgestemmt worden, Holzsplitter auf dem Boden. Der Beamte lehnte mit dem Rücken zur Wand, hielt seine Mütze in der Hand und sagte: »Guten Abend.«
    »Ja.« Ina Henkel streifte Handschuhe über, Stocker ging als erster hinein. Ein kleiner Flur, dahinter eine angelehnte Tür, Stocker stieß sie mit dem Fuß auf. Drei Schritte vor ihnen lag das Bündel auf dem Boden, dick und bleiern und massiv, und sie gingen heran und beugten sich darüber. Es sah wie aufgeblasen aus. Lag auf dem Rücken.
    Stocker rief: »Himmel, Arsch.«
    Es war ein ganzer Wust auf dem Boden, Stoff, etwas Aufgepumptes, etwas Verbeultes, die Reste von etwas, die Reste von irgend etwas, die Reste von Haut. Sterbliche Reste, längst gestorben, zerfallen, zerfasert, man sah hin und konnte nichts sehen. Eine Uhr tickte, ein träges Geräusch.
    Als Ina Henkel sich aufrichtete, kam ihr Atem stoßweise. Stocker fragte, wonach man denn suchen solle, wonach man denn bitteschön suchen solle, und sie wich zurück, immer weiter zurück, bis zum Anfang vielleicht, zu den Kindertagen, als sie sagten: Polizei verhaftet böse Buben. Sie hatte ein Meerschweinchen, das hieß Bully, das Skelett aus dem Biologieunterricht hieß

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