Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
Vom Netzwerk:
Didi. Oder Charly.
    Sie preßte die Arme an den Körper, denn die Arme zuckten wie im Krampf. Ihr ganzer Körper fuhr zusammen wie im Schüttelfrost. Stocker rannte zum Fenster, hielt das Gesicht in den Regen. Die Wanduhr tickte.
    Eine Weile gab es kein anderes Geräusch, nur das Ticken, das Vergehen von Zeit.
    Sich vorzustellen: die Wohnung ist ganz still, Tage, Wochen, Monate vielleicht, und dieses Ticken. Sich vorzustellen: darunter löst sich alles auf. Zu denken, daß er da liegt, die ganze Zeit, und dieses Ticken über ihm wie ein hämischer Gruß von irgendwoher. Pausenlos zu denken, das ist ein Mensch, das ist ein Mensch, das ist ein Mensch. Daß man so wurde. Unerkennbar. Etwas anderes.
    Ina Henkel sagte langsam: »Ich kann nichts sehen.« Ihre Stimme war zu laut. Sie ging noch weiter zurück, bis sie auf Hieber prallte, der ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie schüttelte sie ab, sagte: »Kein Blut. Nichts.«
    »Ja nun«, sagte Hieber.
    »Wie sieht das jetzt aus, Blut? Ist vielleicht versickert.«
    Hieber flüsterte: »Sie müssen ruhig atmen.«
    »Kampfspuren?« Sie deutete auf den Boden und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Eine zersprungene Vase, sonst gab es nichts, was in Unordnung war, eine aufgeschlagene Fernsehzeitschrift auf dem Sessel, zwei Coladosen und eine Schale mit vergammelten Chips auf dem Tisch.
    »Ich weiß nicht.« Hieber zog seine Mütze tief in die Stirn. »Ich hab was vergessen vorhin. Es war komisch –« Mit zwei Fingern preßte er die Nasenflügel zusammen. »Irgendwer hat ein Fax geschickt, Hausbewohner vielleicht. Also, es ist ein Fax eingegangen, daß er hier liegt.«
    »Später!« brüllte Stocker vom Fenster aus.
    »Gut«, sagte Hieber. »Sind alle unterwegs. Pathologe hat angerufen. Ist gleich da. Stand im Stau.«
    Stocker kratzte sich. »Wie lange liegt der hier, um Himmels willen? Gucken Sie mal nach.«
    »Drei Monate wohl.« Ina Henkel berührte die Fernsehzeitschrift mit dem kleinen Finger. »Datum liegt drei Monate zurück. In Hamburg hat mal einer fünf Jahre gelegen, fünf Jahre in der Wohnung im Bett, wußten Sie das?«
    »Ja«, sagte Stocker.
    »Waren die Organe ja längst weg, hat man gar nicht mehr rauskriegen können –«
    »Ich weiß das«, sagte Stocker.
    Sie tastete nach ihrem Notizbuch, doch ihre Hände zitterten, und es fiel auf den Boden. Hieber bückte sich danach, und als er sich aufrichtete, streckte sie ihm einen Finger entgegen. »Man sieht das auch, ich meine, der Körper – der wird starr so vier bis zwölf Stunden nach dem Tod.«
    »Kann sein«, sagte Hieber.
    »Das ist so.« Sie nickte. »Die Totenstarre fängt an Unterkiefer, Hals- und Nackenmuskeln an, steigt dann abwärts und verschwindet bei Eintritt des Zerfalls in derselben Reihenfolge. Wir haben hier keine Totenstarre mehr, auch das ist ein Indiz –« Sie sah auf den grünen Teppich, strich mit der Fußspitze über einen eingetrockneten Fleck.
    »Ich muß noch mal zum Auto«, flüsterte Hieber.
    »Ja, gehen Sie.« Sie sah ihn an, als hätte er etwas Bedeutendes gesagt.
    Im angrenzenden Zimmer waren die Vorhänge geschlossen. Sie rieb den Stoff zwischen zwei Fingern wie eine Kundin im Kaufhaus, hörte nicht auf damit. Dünner Satin, sie sah nicht hin.
    »Fuchs ist jetzt da.« Stocker stand hinter ihr, die Hände in den Hosentaschen.
    »Abends«, murmelte sie. »Oder nachts.«
    »Was meinen Sie?«
    »Ich meine, daß er nicht tagsüber gestorben ist. Wenn das noch von Belang ist. Ist das von – ist das wichtig?«
    »Ja«, sagte Stocker. »Ist Ihnen schlecht?«
    »Im Kopf.« Sie lächelte ihn an, sah, wie er die Brauen zusammenzog. »Immer nur – im Kopf. Verstehen Sie nicht, nein?« Bis hierher war die Uhr zu hören, das Ticken, das sich mit dem Klicken verband, als der Gerichtsmediziner seine Tasche öffnete.
    »Geht’s euch gut?« rief Fuchs herüber. »Ich hab Kreislauftropfen da.«
    » Dann nehmen Sie sie « , brüllte Stocker.
    Unten stand der Mann mit dem Mozartzopf. Er lehnte noch immer an seinem grauen Kastenwagen. Kaugummikauend sah er hoch. Wie ein springender Funke beleuchtete das Blaulicht des Einsatzwagens eine verdorrte Pflanze auf dem Fensterbrett. Ina Henkel flüsterte: »Das war eine Dings, eine Geranie.«
    »Schön«, sagte Stocker.
    »Diese häßlichen roten.« Mit aller Kraft holte sie Luft.
    »Ja, gut.«
    »Ich mag die nicht.«
    Er nickte.
    »Manchmal stehen die auf Gräbern.«
    »Möglich«, sagte er.
    »Ich mag keine Gräber, ich meine, manche Leute gehen da

Weitere Kostenlose Bücher