Mimikry
Front.
Meistens war es so, die Kripo kam hinterher. Hieber hatte dann schon alles gesehen und die wichtigste Vorarbeit geleistet: Tatortsicherung. Dann konnte er sie vorbereiten, konnte sagen, so oder so. Ist verblutet, ist durchlöchert, hängt, ist platt. Oder liegt nur da und man weiß es nicht genau. Oder liegt in Stücken: alles schon dagewesen. Er bekam alles als erster ab, auch die Verrückten, die ihn anspuckten, Leute, die um sich schlugen, mit Waffen fuchtelten, Leute, die nur Schreie ausstießen, ganz entsetzliche Schreie, die man kaum abstellen konnte. Aber am ärgsten war es ja mit denen, die einfach – wie sollte man es beschreiben – lagen. So herumlagen. Jetzt dieser arme Mensch, den er als Menschen gar nicht mehr erkannt hatte. Lag da, wie man es keinem Menschen wünschen mochte, quasi als Materie, gestorben und vergessen. Hieber hatte zu Hause angerufen, kurz nach dem Fund, als er draußen stand und sich überlegte, wie übel ihm denn nun war, hatte angerufen und gesagt, er wolle sich nur melden. Hatte nein gesagt, nein, es wäre nichts Besonderes, wollte bloß mal hören, wie es ihr ging.
Das war eine Beruhigung gewesen. Seine Frau sah fern und erzählte, der Bruder habe angerufen und komme morgen zu Besuch.
Hieber zeigte der Henkel das Fax. Sie saßen unten im Streifenwagen, während Stocker mit ein paar Nachbarn redete, das heißt, Hieber hätte gern gesessen, sich einen Moment lang ausgeruht, aber die Henkel sprang ja dauernd raus und setzte sich wieder rein. Wie ein Springteufel; sie lehnte am Wagen und sprach von oben mit ihm, dagegen hatte er was, also wuchtete er sich selber raus, dann überlegte sie es sich anders und ließ sich wieder auf den Sitz fallen. Kurz darauf sprang sie wieder hoch.
Jungen Kollegen erzählte Hieber, man lerne sie alle kennen, so oder so. KHK Stocker war ein umgänglicher Kerl, wenn er einen guten Tag hatte, er hatte oft schlechte, KOK Henkel war am Tatort zu nervös. Seine Frau würde es hibbelig nennen. Manchmal sah sie wie ein Modepüppchen aus und starrte auf Leichen, als hätten die Toten sie persönlich beleidigt. Dann kam es vor, daß sie anfing zu quasseln und kein Mensch sie wieder abstellen konnte. Viele Kollegen hatten Spaß daran und schlössen Wetten ab: wie viele Sätze quasselt die Henkel heute am Stück? Einer hatte behauptet, es seien zwölf gewesen, zwölf Sätze am Stück, ohne Punkt und ohne Komma. Das war bei der zerstückelten Frau in dem Schrebergarten gewesen, deren Arme vier Meter weiter lagen als der Rest. Der Rest war in einem Müllsack gewesen, die Arme nicht, die lagen offen herum.
Die Henkel hatte blaue Lippen. Hieber fragte: »Kriegen Sie keine Luft?«, doch sie antwortete nicht darauf.
Das Fax war getippt und trug keine Unterschrift, dafür einen Eingangsstempel. » An: Mordkommission. Es liegt ein Toter im Ben-Gurion-Ring 49 F, 1. Stock. Es wird immer schlimmer mit ihm, wenn ihn niemand findet (Verwesung). «
Die Henkel schnippte mit einem Finger dagegen. »Das hat doch kein Ausländer geschrieben.«
»Muß ja auch nicht«, sagte Hieber. »Es wohnen auch Deutsche hier.«
»Das hat überhaupt kein Nachbar geschrieben.«
»Meinen Sie?«
»Erstens.« Sie fuchtelte mit dem Blatt vor seinen Augen herum. »Wenn ich eine Leiche melde, telefoniere ich, gut, ich könnte auch faxen, was Schwachsinn ist, aber dann melde ich mich bei der Polizei und nicht gleich bei der Mordkommission.«
Hieber wartete auf das Zweitens, sie hatte »Erstens« gesagt, aber es kam nichts mehr. »Sie meinen –«
»Ich melde mich ja auch nicht bei der Oberbranddirektion, wenn es brennt. Da rufe ich die Feuerwehr.«
»Sie meinen –«
»Oder?«
»Ja«, sagte Hieber.
»Zweitens hat man ihn – man hat es nur direkt im Gang gerochen, wo er seine Wohnung hat. Nicht im Treppenhaus, nicht im Aufzug, nicht darüber. In dem Gang sind zwei Wohnungen, seine und die vom Nachbarn. Der Nachbar hat das unter Garantie nicht geschrieben. Der mag ja vielleicht alles verstehen, was ich mal bezweifeln möchte, aber so schreibt der doch nicht, ich meine, so kann der sich gar nicht ausdrücken, wissen Sie, was ich meine?«
»Hm«, murmelte Hieber. »Artikulieren.«
»Ja. Hier steht: Verwesung.« Sie starrte auf das Blatt. »In Klammern, für die ganz Doofen, Klammer auf, Verwesung, Klammer zu.« Sie schüttelte den Kopf. »Dann muß ich also wissen oder ziemlich genau ahnen, daß neben mir einer vergammelt. Kein Nachbar wartet seelenruhig ab und schreibt dann
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