Mimikry
Flugangst. Die werfen immer alles durcheinander.«
»Ist die Wohnung schon desinfiziert?« fragte Pagelsdorf. »Müssen Sie noch mal rein?«
»PC brauchen wir noch«, sagte Stocker.
»Die Angst«, sagte Martin, »behindert einen ja dann auch beim Kennenlernen von Menschen.«
Links oben auf dem Video das Logo des Senders, ein Kameramann kam ins Bild. Das Thema der Talkshow lautete: » Achilles – meine verwundbarste Stelle « .
»Es ist die Angst«, sagte Martin Fried. »Die Angst ist immer da.«
»Kein gewaltsames Eindringen in die Wohnung. Obduktionsbefund –« Ina Henkel räusperte sich. »Pathologe kann keinen exakten Todeseintritt angeben, wir gehen aber davon aus, daß es vor dreizehn Wochen war, auch wegen der aufgeschlagenen Fernsehzeitung bei ihm. Fortgeschrittene – ehm – Verwesung.«
Martin Fried lächelte, als Gabriel Mosbach ihm eine Hand auf die Schulter legte und fragte: »Was tust du gegen die Angst?«
»Na ja.« Martin faltete die Hände wie zum Gebet. »Man muß es versuchen. Immer wieder versuchen. Ich war auch schon auf einer Single-Party. Aber da steht unsereiner nur herum, und die sind alle in Gruppen, und man kommt sich ein bißchen dumm vor. Ich will sagen, ich versuche schon, unter die Leute zu gehen, aber dann stehe ich zwischen ihnen herum.«
»Machen Sie das doch aus«, sagte Pagelsdorf.
»Man muß immer wieder drüber reden, nicht?« Mit dem Mikrofon in der Hand tänzelte der Engel Gabriel vor Martin hin und her. »Es muß immer wieder raus, nicht wahr?«
»Eigentlich nicht.« Martin Fried rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. »Jetzt schon, ja.« Als das Saalpublikum applaudierte, lächelte er wie ein Kind, dem man erzählte, alles wird gut.
Stocker schaltete das Gerät aus. Pagelsdorf fragte: »Hat da niemand was gemerkt? Von den Nachbarn?«
»Es ist zugig da drin«, sagte Stocker. »Im Sommer wär’s was anderes.«
Pagelsdorf nickte. »Als ich ein junger Polizist war, hatten wir auch so einen Kandidaten. Den hatte man Ostern zuletzt gesehen, dann war Pfingsten. Da hat mich mein Vorgesetzter in eine Kneipe geschleppt, einen kippen. So mußte ich lernen, damit umzugehen.«
»Ja fein.« Stocker klatschte in die Hände. »So lernt man aber nicht, damit umzugehen.«
»Nein«, sagte Pagelsdorf.
»Seit Jahren fordere ich Supervision –«
»Ich auch.« Pagelsdorf nickte. »Ich kriege das aber nicht durch.«
»Supervision, ist das dieses Gequatsche?« Ina Henkel zog mit dem Bleistift Striche auf ihren Fingernagel. »Erklärt mir da so ein Psychologe, warum ich mich dauernd mit meiner Mutter streite?«
»Supervision heißt Aufarbeitung.« Stocker wandte sich ihr so rasch zu, daß sie zurückzuckte. »Es handelt sich um eine –«
»Und als Grund kommt dann raus, auweia, die hat mir ja gar nicht die Brust gegeben.«
»– eine Reflexion, verstehen Sie das Wort?«
»– sondern nur die Flasche. Riesenfrust.«
»Denn es ist ja nicht unbedingt alltäglich, verstümmelte Leute zu sehen und schon gar keine zerfallenen.« Stocker schlug die Faust auf den Tisch. »Es gibt Kollegen, die erleiden da fast einen Schock, wissen Sie? Jeder Sozialarbeiter, der sich mit irgendwelchen Greisen befaßt, kann mit einem Psychologen darüber reden, kann gewisse Vorfälle aufarbeiten, nur hier setzt man aufs Fleischergemüt, um Geld zu sparen.«
»Ach kommen Sie, ich quassele doch nicht noch darüber, wahrscheinlich noch in der Freizeit, was?« Sie warf ihren Bleistift auf die Tischplatte. »Außerdem lasse ich mir von einem, der selber außen vor ist, gar nichts sagen. Scheißpsychologen, die haben doch nichts außer Vögeln im Kopf.«
» Das sind Analytiker. Sie brauchten vielleicht einen.«
»Bitte.« Pagelsdorf klopfte mit einem Lineal auf den Tisch. »Anbrüllen können Sie sich später. Es führt jetzt zu nichts, ich bitte fortzufahren.«
Stocker nahm den Hefter. »Obduktionsbefund geht, wie gesagt, von einem Tötungsdelikt aus. Zertrümmerung der Schädeldecke, Anzahl von Schlägen auf Kopf, Nacken und Gesicht. War bei der Sache Bischof genauso.«
»Sind Sie sicher?« fragte Pagelsdorf.
Stocker sagte: »Bischof hatte noch Schnittverletzungen, ansonsten sieht das ähnlich aus.«
Ina Henkel pustete in ihren Tee, der längst kalt war. »Bei beiden, Fried und Bischof, keine Einbruchsspuren, keine Zeugen. Eigentlich gar keine Spuren. Bei beiden sieht es so aus, als hätten sie den Täter eingelassen, und der hat dann von außen nur zugezogen.« Sie deutete auf das Videogerät.
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