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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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sie anschnauzte, wo sie denn blieb. Sie hockte da oben auf der Fensterbank, den Kopf gegen den Rahmen des offenen Fensters gelehnt, zwanzig Minuten oder länger, bis sie endlich aufstand. Das Licht brannte weiter und das Fenster blieb offen, trotz Regen.

24
    Das Zimmer war ausgekühlt, aber das machte nichts. Unauffällige Geräusche hallten wie Kanonenschläge in der stillen Nacht, der bellende Hund, eine Autotür, ein startender Motor. Alles war besser als das Tick und Tack der Wanduhr über diesem Mann, Martin Fried.
    Ein Ticken im Kopf. Sie hatten die Uhr nicht von der Wand genommen, wahrscheinlich tickte sie noch immer in seiner totenstillen Wohnung vor sich hin. Ina Henkel setzte die Kopfhörer ihres Walkman auf und machte ein weiteres Licht an, alle Lampen brannten jetzt. Den Halogenstrahler richtete sie so, daß er genau auf die Pinnwand zielte, dann zeichnete sie mit einem Eyeliner die Wimpern auf den Fotos nach, wo sie nicht so genau zu erkennen waren. Die Models lächelten. Sie waren schön. Sie waren heil. Keine schwarzen Flächen, keine porösen schwarzen Flächen, wo einmal die Wangen gewesen waren oder die Nase. Die Nase als halbes Loch, die Nase, die ausgesehen hatte, als wachse sie nach innen zurück. Sie nahm ihren Lippenstift und malte einen Mund ein wenig röter, strich behutsam über die Linien und der Stift klebte auf dem Papier.
    Ein entsetzliches Geschmiere, als sie fertig war. Sie schloß die Augen.
    Es war jetzt die falsche Musik in ihrem Kopf, eine Schnulze von einer Band, die härtere Sachen spielte. Bands, die Hartes spielten, hauten die allerschlimmsten Schnulzen raus, das war ein übles Gesetz, doch ihre Arme waren so schwer, daß sie den Kopfhörer nicht herunterbekam. Sie ballte die Finger und schob die halbe Faust in den Mund, biß auf den Knöcheln herum, während sie diesem Mist zuhörte, der vielleicht noch immer besser als das Ticken war, das Tick und Tack, ein Requiem möglicherweise, so nannte man das doch, ein Totenamt für die Gestalt auf dem Boden, diese gestaltlose Gestalt, häßlich, stinkend, schimmlig.
    Zu was für einem Dreck man wurde. Unkenntlich. Nichts mehr. Nicht mehr vorhanden. Ina Henkel schraubte ihren Lippenstift wieder auf und tupfte Rouge auf die Wangen der Models.

25
    Jeder Schritt war laut. Sie machte Lärm. Sie mußte durch einen häßlichen Hinterhof, und wenn es spät war und man das Kindergeplärr und die Autos und das Gekeife nicht mehr hörte, hallte jeder Schritt. Biggi kam sonst nie so spät nach Hause, niemals mitten in der Nacht. Daß das Außenlicht hinter den Briefkästen so schwer zugänglich war, hatte sie fast vergessen. Sie schob sich an der Mauer entlang und hoffte, daß niemand aus dem Fenster sah und sie für betrunken hielt. Das Bein tat aber weh, oben an der Hüfte. Und das Bein war laut, der Fuß mit dem Schuh, dem häßlichen Schuh, der so dumpf polterte bei jedem Schritt, wenn das Bein weh tat und sie nicht richtig auftreten konnte, nur hinken und humpeln wie die Hexe im Märchen. Die Hexe oder sonst eine Gestalt; ein Junge, in den sie verliebt gewesen war, hatte sie Glöcknerin genannt, zuerst hatte sie nicht begriffen, was er meinte. Er hatte nicht gewußt, daß sie in ihn verliebt gewesen war, es war auch lange her. Ihr Bein zeichnete einen Halbkreis in die Luft bei jedem Schritt, zum Glück war es dunkel. Sie riß sich die Hand an der Mauer auf, dann fand sie den Schalter. Sie sah hoch. Nur ein häßliches Haus.
    Die Henkel hatte keine Gardinen an den Fenstern, nichts, auch keine Pflanzen, das hatte man sehen können. Gardinenlose Fenster waren schöner, doch Biggi traute sich das nicht. Es gab diese Leute, die sich um nichts scherten, auch nicht darum, ob ihnen andere in die Wohnung glotzten. Denen war es ganz egal, was andere dachten, die zeigten ihr Leben, ihr Tagleben, ihr Nachtleben, verschanzten sich nicht.
    Es war kalt in der Wohnung, kalt und still. Sie hatte solchen Lärm gemacht, als sie durch den Hinterhof gepoltert war, mit dieser Krücke und dem blöden Bein war sie vielleicht aufgefallen.
    Jetzt war es still, nur in ihrem Kopf summte es ein bißchen. Sie nahm die beiden Pflanzen von der Fensterbank, sie sahen ohnehin verkümmert aus. Sie sah sich um. Ihre Wohnung war ein sonderbarer Ort. Es waren die zwei Zimmer, in denen niemand auf der Lauer lag. Da mußte sie keine Antworten geben, konnte sie tragen, was sie wollte, bequemes Zeug. Keiner guckte, wie sie sich anstellte, niemand grinste. Biggi sah ja, daß Leute

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