Mina (German Edition)
schluckt.“
„Pillen?“
„Jawohl. Die Dinger wollten sie mir auch verabreichen. ,Nie im Leben!‘, hab ich gesagt. Verdammte Pillen!“
Und ohne, dass sie es sich hätte erklären können, wollte auch sie sein Kumpel sein. Sie wollte ihm ihre Geschichte erzählen, wollte mehr von ihm erfahren, wollte über seinen Garten reden und seine Tätowierung, wollte ihn fragen, wie ein Vogel, der für die Freude geboren wurde, in einem Käfig sitzen und noch ans Singen denken konnte, und sie wollte ihm von den Glück bringenden Distelfinken erzählen. Sie wollte ihm zeigen, wie sie mit Worten auf einem Blatt Papier spielte, und ihm sagen, welche Wörter sie sich früher auf ihre Haut geschrieben hatte. Und sie wollte ihm erzählen, dass man auch ihr Pillen hatte geben wollen. Aber sie tat es nicht. Stattdessen zog sie sich wieder zurück. Sie wandte sich von ihm ab, wieder Alicia zu, die lächelte, ihren Arm berührte und leise vor sich hin summte.
„Also schön“, sagte Malcolm. „Jetzt, da wir uns kennengelernt haben, ist es Zeit für Mathe. Oh, entschuldige, Steepy: verdammte Zeit für Mathe!“
Sie beugten sich über Arbeitsblätter. Zwei Assistenzlehrer kamen herein, Chloe und Joe.
Chloe setzte sich neben Mina und begleitete sie durch die Aufgaben: „7 x 6 ist dasselbe wie 6 x …; 123 x 9 ist dasselbe wie 9 x …“ Es war ganz einfach.
Sie hörte Wilfred laut fluchen und sah, wie er seinen Stift durch das Zimmer schleuderte. Er stand auf und stürmte mit geballten Fäusten zum Fenster. Malcolm brachte ihn mit ruhigen und sanften Bewegungen wieder zu seinem Tisch. Sie hörte, wie Steepy die Lösungen sagte und sah, wie Malcolm sie für Steepy aufschrieb.
Alicia saß neben Mina und flüsterte, dass ihr das Rechnen so schwerfiel. Mina half ihr, und sie sah, wie sich die Tränen in ein Lächeln verwandelten, als die Antworten gefunden waren. Und sie sah die dünnen Narben auf Alicias Armen. Sanft strich sie über eine.
Alicia zuckte zusammen und wisperte dann: „Ich habe mich früher selbst geschnitten, Mina. Aber das mache ich nicht mehr.“
Mina schaute durch den dichten Pony in Alicias Augen. Sie wollte Alicia von dem Tag erzählen, als sie auf dem Baum gesessen und Wörter mit einem Messer in die Rinde geritzt hatte. Sie hatte die Klinge auf ihre Haut gelegt. Sie hätte beinahe die Wörter in sich selbst geschnitten. Aber sie erzählte es nicht.
Alicia lächelte traurig. „Ich bin jetzt vernünftig“, sagte sie.
„Ich auch“, flüsterte Mina. „Komm, lass uns weiterrechnen.“
Mina half Alicia bei den Aufgaben. Immer wieder schaute sie sich im Raum um und betrachtete die Menschen, mit denen man sie zusammengebracht hatte. Ein Haufen Außenseiter an einem Ort, an dem sie Außenseiter sein durften. Sie kannte sie. Sie verstand sie. Es war so merkwürdig. Die Kinder, denen sie hier begegnete, hatten alle Schwierigkeiten, sich irgendwo einzufügen, aber hier, an einem Ort für Außenseiter, wurden sie akzeptiert. Hier passten sie alle hin, und für ein paar Stunden an jedem Tag waren sie keine Außenseiter mehr. Es gab noch mehr Räume mit anderen Außenseitern. Gestörte, verletzte, scheue, verängstigte Kinder. Kinder mit Schmerzen und Problemen und Sehnsüchten. Sie wollte nicht darüber nachdenken, aber sie konnte nicht damit aufhören. Sie kannte diese Kinder gut. Auf gewisse Weise waren sie wie sie selbst. Aber sie versuchte trotzdem, Abstand zu wahren.
Zum Mittagessen gab es Makkaroni mit Käsesoße und Schokoladenkuchen. Mina lief mit Alicia über den betonierten Schulhof. Die Sonne schien. Sie stellte sich an den Zaun und starrte hinaus auf die Stadt. Sie dachte an ihre Mutter, überlegte, wo sie wohl jetzt war und was sie tat. Sie merkte, dass sie über Steepys Worte nachdachte: dass all das eines Tages zerstört sein würde.
Aber war das möglich? Es konnte doch keine vollständige Zerstörung geben, kein absolutes Nichts. Ja, vielleicht würde die menschliche Rasse eines Tages aussterben wie die Dinosaurier. Und die Städte würden zu Staub zerfallen. Dann hätten die Menschen den Himmel zerstört, den sie doch selbst mit erschaffen hatten. Aber es würde Überlebende geben.
Die Vögel flogen über sie hinweg, Spatzen und Finken und Krähen – herrliche Geschöpfe mit leichten Knochen. Sie wirkten zerbrechlich, aber möglicherweise waren sie die stärksten und tapfersten Geschöpfe überhaupt. Sie würden die Menschen überleben, wie sie die Dinosaurier überlebt hatten.
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