Mina (German Edition)
anzugeben und so zu tun, als ob sie etwas Besonderes wäre, ganz anders als die anderen Leute hier.
„Die Komplexität von Sätzen“, sagte sie, „von Absätzen und Seiten …“
„Ach, Mina!“, sagte ihre Mutter.
Malcolm klappte das Buch zu. „Vielleicht kannst du uns ein paar Bücher empfehlen, Mina“, sagte er. „Mrs McKee, ich glaube, Sie können Mina jetzt bei uns lassen, und …“
„Ja, Sie haben Recht“, sagte Mrs McKee.
Sie umarmte Mina. Sie wünschte ihr einen schönen Tag. Sie versprach ihr, sie am Nachmittag wieder abzuholen.
Als sie ging, hätte Mina am liebsten wie eine Vierjährige geheult. Sie wollte jammern: „Nimm mich mit, Mami! Nimm mich mit!“ Aber sie stand nur da wie ein Stein, stumm und starr.
Nach und nach trafen die anderen Kinder ein, und der Tag begann.
Da war Wilfred, der so zornig aussah, dessen Stirn immer gerunzelt war, der die Fäuste ballte und der niemandem außer Malcolm in die Augen schaute. Seine Fingernägel waren beinahe bis aufs Fleisch abgebissen und zwei seiner Vorderzähne fehlten. Er roch nach Hund.
Dann war da Alicia, die Mina von Anfang an mochte und den ganzen Tag nicht von ihrer Seite wich. Alicia war wie ein kleines Tier. Ihre Hände zitterten leicht. Ihr Pony hing ihr bis über die Augen. Sie saß immer leicht vornübergebeugt, sodass ihre Haare ihr Gesicht wie ein Vorhang verdeckten. Sie hauchte ihre Worte eher, als dass sie sie aussprach. „Ich mag dich, Mina. Darf ich beim Mittagessen neben dir sitzen, Mina?“ Meistens war sie still, aber manchmal hörte Mina sie eine dumpfe, langsame Melodie summen.
Und da war auch Steepy, ein hagerer Junge, ganz in Grün gekleidet, dessen Hände mit Schnitten und Schrammen übersät waren. „Verdammte Rosen, Malcolm“, sagte er, „mit ihren verdammten Dornen, Malcolm. Und die verdammten Brombeeren. Wie verdammte Messer, Malcolm.“ Er grinste Mina an. „Es ist mein verdammter Garten, Nina.“
„Mina“, verbesserte Malcolm ihn. Er zwinkerte. „Steepy hat den Ehrgeiz, den üppigsten Garten im ganzen Land zu haben. Und er hat auch den Ehrgeiz, in jedem Satz ein Schimpfwort unterzubringen.“
„Verdammt richtig, Malcolm“, sagte Steepy. „Ich könnte im Leben keinen verdammten Satz schreiben, aber wenn es ums Fluchen geht … oder um die verdammte Kunst …“
Er zog sein T-Shirt hoch. Auf seine Brust war ein ganzer Garten tätowiert: Hecken, Bäume, Dutzende von Blumen, Schmetterlinge, Vögel.
„Und das ist erst der Anfang, verdammt noch mal! Auf die Beine lasse ich mir einen verdammten Wald tätowieren und einen verdammten Himmel auf meinen verdammten Kopf.“
Gegen ihren Willen und ihren Entschluss, Abstand zu wahren, beugte sich Mina mit großen Augen vor.
„Aber du bist doch bloß ein Junge!“, hörte sie sich sagen.
„Jawohl, und als ich mir das habe machen lassen, da war ich noch nicht mal zwölf. Mein Onkel Eric hat’s gemacht. Er ist ein echter Künstler. Die wollten ihn einsperren, aber sie haben es nicht gemacht, weil er doch alles ist, was ich habe. Aber er darf mich erst wieder tätowieren, wenn ich sechzehn bin. Dann lasse ich mir den Rest machen.“ Mit einem Ruck zog er das T-Shirt wieder herunter. „Wir machen die ganze verdammte Welt kaputt, Mina. Wir verbrennen sie, jagen sie in die Luft, zerstören sie. Wir töten alles und jeden. Jedes herrliche lebendige Wesen wird aussterben. Aber auf mir wird alles noch zu sehen sein, Mina. Ich werde ein verdammtes Mahnmal sein für alles, was verschwunden ist.“
„Seine Weltanschauung ist nicht so düster, wie es klingt“, sagte Malcolm. „Warum sollte er sich sonst die ganze Arbeit mit dem Garten machen?“
„Aus Liebe“, sagte Steepy.
„Aus verdammter Liebe, meinst du wohl“, korrigierte ihn Malcolm.
„Jawohl. Aus verdammter Liebe.“ Er schaute Mina an. „Und warum bist du hier?“
Mina zuckte die Schultern. „Und du?“
„Weißt du doch längst: Warum sollte man zur Schule gehen, wenn man so viel Gartenarbeit hat?“
„Und was machst du dann hier?“
„Ich bin mit meinen Kumpeln zusammen. Mit Malcolm und Wilfie.“
Wilfried schaute böse drein. Er fletschte die Zähne.
Steepy hob die Hand. „Sitz!“, befahl er. „So ist’s brav. Du bist mein verdammter Kumpel, Wilf, ob du willst oder nicht.“
Wilf schaute weiter böse und sah nicht aus, als wäre er der Kumpel von irgendjemandem.
Steepy zwinkerte Mina zu. „Er ist ganz in Ordnung“, flüsterte er. „Solange er seine Pillen
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