Mindfuck: Warum wir uns selbst sabotieren und was wir dagegen tun können (German Edition)
Beck und seine Forschungsgruppe zur »Risikogesellschaft« so bezeichnend deutlich machen. Was Beck und seine Mitarbeiter dabei leider aber oft hintanstellen, ist, dass wir nicht nur in einer Gesellschaft der privatisierten und komplexen Risiken leben, weil wir uns frei entscheiden können. Wir leben, jedenfalls in der westlichen Welt, auch in einer Zeit unvergleichlicher äußerer Sicherheit ohne Kriege und Hungersnöte. Und vor allem leben wir in einer Gesellschaft der Freiheit und der Möglichkeiten, die es so bisher niemals gab. Vielleicht liegt es an der Generation des Wissenschaftlers und seines Umfelds, dass er die negativen Seiten dieses Umbruchs – das private Risiko bei der ungewissen, aber freien Entscheidung – mehr herausgearbeitet hat als die positiven Chancen. Negativ ist der Wegfall von Traditionen nämlich nur dann, wenn wir immer noch der Meinung sind, dass es wichtiger ist, konform zu gesellschaftlichen Normen zu denken und zu leben, als sich selbst auf eine authentische Art zu verwirklichen. Wenn dann die Normen nicht mehr klar sind, hat ein Mensch tatsächlich ein Problem: Woran soll er sich halten, wenn es keine verbindlichen Normen mehr gibt? Was ist dann Erfolg, wenn das niemand mehr definiert? Wann liegt man richtig?
Ganz gemäß diesem verinnerlichten alten Denken hat Beck aus meiner Sicht den Aspekt von Sicherheit und Kontrolle höher bewertet als den ebenso deutlichen Anstieg der Lebensqualität. Vor allem die Lebensqualität derjenigen, die in der Welt von gestern nur die Chance hatten, zu gehorchen und sich unterzuordnen, blieb zu weit außen vor. Angesichts der ungeheuren Möglichkeiten, die Männer und vor allem Frauen heute unabhängig von ihrer Herkunft haben, erscheint es aus historischer Perspektive geradezu unverständlich, den Blick so auf die Risiken, denen wir gegenüberstehen, zu verengen. Es mag provokant klingen, aber das Risiko, etwa bei einem Terroranschlag zu sterben, ist verhältnismäßig gering im Vergleich zum Risiko, das unsere Vorfahren hatten, eine Grippe oder eine Mandelentzündung nicht zu überleben. Das Risiko, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, ist nichts gegen die Risiken ganzer Generationen, durch Krieg und Hunger zu sterben.
Wir werden endlich alt
Ein neues »Risiko«, das vor allem durch die Finanzpresse geistert und in dieser Hinsicht alle Rekorde an Zynismus und meiner Ansicht nach verdrehter Weltsicht bricht, ist das sogenannte Langlebigkeitsrisiko. Der Fachbegriff aus dem Versicherungsrecht, der sich darauf bezieht, dass immer mehr Menschen heute im Durchschnitt immer älter werden, wird an vielen Stellen zu einem neuen Katastrophen- MINDFUCK aufgebauscht. Plötzlich wird ein versicherungstechnisches Risiko, das vor allem die Rentenversicherungen betrifft, zum privaten Risiko eines Menschen erklärt. Ich gebe zu, ich bin immer wieder fassungslos darüber, wie sich die erste Generation in der Menschheitsgeschichte, in der so viele Menschen so alt werden wie noch nie, vor allem ängstigt, anstatt stolz und dankbar zu sein, dass wir
das
Ziel erreichen, das alle Generationen vor uns hatten: alt zu werden, anstatt viel zu früh zu sterben. Zweifellos stellt der demographische Wandel zur älter werdenden Gesellschaft uns vor neue Herausforderungen und zwingt uns, neue politische und wirtschaftliche Lösungen zu finden. Doch ist der Menschheitstraum von Jahrhunderten damit zwangsweise eine »Langlebigkeits«-Katastrophe? Wohl nur dann, wenn die Angst des alten Denkens den Weg zu neuen Lösungen verbaut.
Wie die Welt wirklich ist
Es wäre jedoch erneuter
MINDFUCK
zu behaupten, die Welt sei heute ausschließlich gut. Es gibt keinen Grund, in eine übermotivierte Positivschleife zu kommen. Die Welt ist heute sowohl gut als auch schlecht. Es gibt freie Gesellschaften ebenso wie extrem geschlossene, diktatorische und grausame. Es gibt geistige Freiheit ebenso wie extremen Fundamentalismus und himmelschreiende Engstirnigkeit. Viele sind, wie Beck bereits beobachtete, aufgebrochen, ihr eigenes Leben zu gestalten. Andere wollen die alten Strukturen ihrer Vorfahren wiederbeleben und rufen nach einer starken Hand oder fordern, dass wir alte Werte wiederbeleben. In der ganzen Bandbreite können wir eines sehen: Die Welt heute ist eine Welt im Übergang, in der wir auf engem Raum eine große Vielfalt von unterschiedlichen Existenzen und Lebensweisen zur gleichen Zeit erleben können. Sie ist schwierig und aufregend zugleich. Was sie
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