Mindstar 02 - Das Mord-Paradigma
ihres sich verengenden Rückens.
Sie gingen an der Treppe vorbei zum Nordflügel und wurden dabei vom Dämmerlicht verschluckt. Dann leuchtete orangenes Licht hinter der Tür auf, die Rosette öffnete. Kitcheners Zimmerflucht.
Sie warf nicht einmal einen Blick zurück, um zu prüfen, ob Nicholas noch herübersah, ehe sie die Tür hinter ihnen beiden schloß.
Wieso? Er begriff das nicht. Sie war nicht drogenabhängig. Sie litt nicht unter Einbildungen. Sie war stets so ausgeglichen. Nicht wie er, in dessen Kopf Phantasiefrauen und die Agonie sexuellen Verrats Amok liefen und ihn verwirrten, bis er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Nicholas krallte sich an der Bettdecke fest, wie gelähmt vor Angst, die rothaarige Frau könnte wieder auftauchen, wobei er zugleich auf eine perverse Art hoffte, daß es geschah. Nichts ergab mehr einen Sinn.
Wieso? War es ein Preis, den weibliche Studenten zahlen mußten, um aufgenommen zu werden? Aber davon hätte er gehört; diejenigen, die das ablehnten, wären schreiend zu den Sensationssendern gerannt.
Der Mond war untergegangen und überließ es dem kalten Sternenlicht, das Tal zu küssen.
Nicholas hörte verirrte Windböen um die Dachrinne fegen und das Gurgeln des Wassers aus den überlaufenden Seen.
Wieso? Sie brauchte es doch nicht zu tun. Nicht mit Kitchener. Nicht mit Rosette. Also mußte sie es wollen. Wieso? Wieso? Wieso?
Nicholas wurde urplötzlich wach, und der Kopf fuhr mit einem reflexartigen Ruck vom Kissen hoch. Was hatte ihn geweckt? Er hatte immer noch T-Shirt und Jeans an, den Hosenknopf geöffnet. Die Bettdecke bildete eine zerknüllte Masse unter ihm.
Er hatte das Gefühl, jede Nervenfaser würde destillierte Angst ins Gehirn schießen. Er wußte, daß es sich um etwas Schlimmes handelte, etwas sehr Schlimmes.
Der Schrei attackierte seine Ohren. Der Schrei einer Frau. Stark und vollkommen unglücklich. Dehnte sich in die Länge, genug, um eine wunde und ausgedörrte Kehle zu hinterlassen.
Er rollte sich schnell aus dem Bett. Von der bevorstehenden Morgendämmerung fiel gerade genug Licht herein, um etwas zu sehen. Der Schrei brach ab, als er die Tür erreichte, und setzte wieder ein, als er sie öffnete.
Er sah sich wild um. Orangenes Licht leuchtete am hintersten Ende des Nordflügels. Er sah Rosette, wie sie zerbrochen unter der Tür zu Kitcheners Zimmern kniete und sich verzweifelt am Holzrahmen festklammerte.
Zu ihr hinzukommen war ein wirrer, verschwommener Vorgang. Nicholas’ Füße trommelten. Die anderen Türen gingen auf. Bleiche besorgte Gesichter. Dieser endlose, durch Mark und Bein gehende Schrei.
Tränen strömten Rosette übers Gesicht. Sie zitterte heftig.
Er stürmte an ihr vorbei und sah zum erstenmal das Schlafzimmer. Die Vorhänge waren noch zugezogen, und getönte Bioleuchtkugeln schimmerten in knollenartigen Papiermondlampenschirmen, die an der Decke hingen. Das Mobiliar war überragend geschmackvoll, eine dunkle uralte Kommode, ein dazu passender Kleiderschrank, chinesischer Teppich, mannshoher Spiegel, ein Tisch mit Porzellanplatte unter dem Fenster, Messingornamente auf der Kaminverkleidung, Mönchstruhe. Zentralstück war ein großes Himmelbett mit bernsteingelbem Baldachin.
Edward Kitchener lag auf dem schneeweißen Seidenlaken, mitten in einem dunkelroten Blutfleck, der sich bis an den Rand der Matratze ausbreitete. Nicholas spürte, wie sich der unerträgliche Druck eines Schreis in der eigenen Brust aufbaute.
Kitcheners Kopf war intakt und zeigte eine fast heitere Gelassenheit. Aber der Rumpf … Zerrissen. Zerfetzt. Zermalmt. Der Brustkorb war aufgerissen, und die zerdrückten Organe waren auf dem Bett verteilt.
Nicholas explodierte der Schrei von den Lippen. Das Tosen in seinen Ohren bedeutete, daß er ihn nicht mal hören konnte. Von ferne wurde er sich der übrigen Studenten bewußt, die sich hinter ihm drängten.
Seine Beine gaben nach. Er sank zu Boden und erbrach sich hilflos auf Kitcheners großartigen chinesischen Teppich.
Kapitel drei
Der aus den 1950ern stammende Rolls-Royce Silver Shadow glitt mit achtzig Stundenkilometern dahin, und die Weißwandreifen schluckten ohne Spur von Anstrengung alle Härten der Splittfurchen, die die heruntergekommene M11 durchzogen. Julia Evans bewunderte das alte Auto; es war in Sachen Stil der absolut letzte Schrei, und die robuste altmodische Technik hielt der verstärkten Federung und den breiten Silicongummireifen jedes modernen Modells locker
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