Mindstar 02 - Das Mord-Paradigma

stand. Umbauten waren nicht nötig gewesen, um mit Englands verrottendem Straßennetz fertig zu werden, und so schlugen an Neuerungen nur der geschlossene Abgaskreislauf einer Rekombinationszelle sowie diverse Sicherheitsanlagen zu Buche. Die Rekombinationszelle machte es möglich, weiter Benzin zu verbrennen, ohne die Luft zu belasten.
    Durch die abgedunkelten Scheiben sah Julia den Teppich aus Gras, Unkraut und üppigem smaragdgrünen Moos, der den Seitenstreifen überwucherte; sogar die Leitplanken entlang des Mittelstreifens waren vom Winde verschluckt worden; schneeweiße trompetenförmige Blüten schoben sich aus dem Mantel breiter Blätter hervor. Der ursprüngliche Asphalt diente weiterhin als Grundlage, war aber auf jeder Fahrbahn von tiefen Reifenfurchen durchzogen. Heute nachmittag war er nach den kühlenden Regenfällen vom Wochenende in festem Zustand, aber für neun Monate im Jahr reduzierte die Sonne die Straßen zu breiigem, schwarzem Sirup.
    Die neokonservative Regierung zeigte sich prinzipiell einverstanden, eine landesweite Instandsetzung des Straßennetzes mit Priorität zu betreiben, indem sie die Millionen Asphaltkilometer mit einer Schicht wärmebehandelter Zellulose überziehen ließ, aber sie zögerte damit noch, bis gigaleiterbetriebene Fahrzeuge weite Verbreitung fanden.
    Der Rolls näherte sich Abfahrt zehn, und das Führungsfahrzeug der vier Autos starken Polizeieskorte schaltete das blaue Leuchtsignal ein. Eine Menge Leute säumten anscheinend die Ausfahrt.
    »Wer sind die?« fragte Julia.
    Rachel Griffith, einer ihrer beiden ständigen Leibwächter, saß auf dem Klappsitz ihr gegenüber. Rachel war fünfundzwanzig und Hardlinerin der Sicherheitsabteilung; sie trug heute ein schickes zweiteiliges Kostüm. Sie drehte sich um und betrachtete prüfend die Wegstrecke voraus. Ihr schmales Gesicht zeigte Julia schnell ein beruhigendes Lächeln. »Nur ein paar Demonstranten«, sagte sie. »Wenn Sie und der Premierminister auf derselben Veranstaltung auftreten, ist das eine öffentliche Gelegenheit, die sie nicht ignorieren können.«
    Julia nickte. Rachel war seit fünf Jahren bei ihr, hart, gescheit und loyal. Julia betrachtete sie gern als Freundin. Solange Rachel sich keine Sorgen machte, gab es auch keinen Grund dazu.
    »Näher kommen sie nicht ans Institut heran«, sagte Morgan Walshaw, der Sicherheitschef von Event Horizon, vom zweiten Klappsitz her. Selbst im Sitzen brachte er keine entspannte Erscheinung zustande, den Rücken steif, die Schultern gestrafft, mit einem tadellos sitzenden kohlegrauen Anzug bekleidet. Er paßte perfekt in Julias Vorstellung von einem barschen alten Home-Counties-General im Ruhestand. Abgesehen davon, daß Morgan viel cleverer war als jeder General. Gott sei Dank.
    Er war zweiundsechzig Jahre alt. Das silbergraue Haar war bis auf nur einen Zentimeter Länge zurückgeschnitten und die dicke, gebräunte Gesichtshaut von einem Netz schmaler Falten durchzogen. Die harten hellblauen Augen vermittelten Julia immer ein furchtbares Schuldgefühl, wenn er sie musterte. Alles, was sie tat, gelangte letztlich zu ihm: Abende, an denen sie sich mit ihren Freundinnen in den Clubs von Peterborough herumtrieb, Ferienabenteuer, Party-Eskapaden, Jungen. Morgan gehörte bereits seit Jahren zum Unternehmen und hatte erst ihren Großvater beschützt und jetzt sie, ein Job, den er mit äußerster Tüchtigkeit und vollständiger Hingabe tat. Seine Zustimmung war für Julia immer furchtbar wichtig, vor allem, weil er niemals jemandem ein überflüssiges Kompliment machte. Sie mußte es sich verdienen, etwas, was sie bei den meisten Menschen, die ihren Weg kreuzten, nie erlebte. Und Lobesworte hatte sie in den zurückliegenden Jahren tatsächlich häufiger von ihm zu hören bekommen, wenn sie auch widerwillig geäußert wurden. Oft ertappte sie sich bei dem Wunsch, er möge ihr richtiger Vater sein. Zu wissen, daß er in ein paar Jahren in den Ruhestand treten würde, war etwas, das sie immer tief im Hinterkopf zu begraben versuchte; der Gedanke erschreckte sie.
    Zugriff auf Festansprache, wies Julia den Bioware-Prozessornetzknoten lautlos an. Farblose Worte strömten aus einem der drei Speicherknoten hervor, die im Hinterkopf implantiert waren, und bildeten hinter den Augen ein geisterhaftes Manuskript. Sie ging es zum wohl zehnten Mal seit dem Frühstück durch. Die PR-Abteilung von Event Horizon hatte es für sie verfaßt, aber sie hatte ein paar Änderungen vorgenommen, weil die