Mindstar 03 - Die Nano-Blume
Transportabteilung beendet hatten, goß sich Julia eine Tasse Tee aus einem Silberservice ein, ging zum Fenster hinüber und schaltete es auf Durchsichtigkeit. Praktisch der einzige Grund, warum sie heute überhaupt noch ein Büro hatte, waren Konferenzen; selbst im Datenzeitalter war der zwischenmenschliche Kontakt ein wichtiges Werkzeug der Unternehmensführung geblieben, jedenfalls auf dem Niveau der Führungskräfte.
Als der Goldspiegel vor ihr verblaßt war, blickte sie hinunter auf das alte Landviertel von Peterborough, das unter der Julisonne faulenzte; die weiß getünchten Wände reflektierten ein blendend grelles Licht. Die dichte Ansammlung aus Backstein- und Betonhäusern zeichnete sich durch eine Art mittelalterlicher Unordnung aus. Julia mochte das Chaos; es verbreitete ein Gefühl des Organischen und war von daher leicht den reglementierten, seelenlosen Linien der meisten neueren Städte vorzuziehen. Sorgfältig ausgetüftelte Konzepte wie Stadtplanung und Grüngürtel waren die ersten Opfer gewesen, als die Fens überflutet wurden; die Flüchtlinge, die über die Stadt herfielen, suchten trockenes Land, und wo sie es fanden, schlugen sie hartnäckig Wurzeln. Ihre neuen Wohnsiedlungen und Industriegebiete schossen auf jedem Flecken ungenutzten Bodens empor. Das lag ein Vierteljahrhundert zurück, und rechtliche Auseinandersetzungen über Landbesitz und Entschädigung schlugen vor den County-Gerichten immer noch hohe Wellen.
Das alte Viertel zeichnete sich durch eine Atmosphäre der Dringlichkeit aus; auf den belaubten Straßen dort unten ging es immer noch aufregend zu. Aus den wenigen lokalen Nachrichtensendungen, für die Julia Zeit fand, wußte sie, daß der Schmuggel nach wie vor eine Hauptbeschäftigung der Stanground-Armada war, eine größtenteils permanent festliegende Ansammlung von Kajütbooten, Hausbooten, Frachtkähnen und Motorbarkassen, die aus den Norfolk Broads zu dem halb versunkenen Vorort geströmt waren. Hier blühten die Geschäfte nicht lizensierter Destillerien; Syntholabors arbeiteten in halb vergessenen Kellern und machten der Drogenpolizei ganz schön das Leben schwer; Bordelle boten Seeleuten, die zu Besuch kamen, ihre Dienste an; und Teksöldner lebten wie die Fürsten in gediegenen New-Eastfield-Wohnanlagen, Ghule, die sich von der Rivalität der Konzerne nährten.
Eine gewisse romantische Atmosphäre, die das alles umspielte, war reizvoll für einen jüngeren Teil von Julias Persönlichkeit, den mädchenhaften Teil. Peterborough war für sie eine Brücke in die Vergangenheit und die kurzen Jahre einer sorgenfreien Jugend, die ihr vergönnt gewesen waren, ehe Event Horizon ihr Leben in Beschlag nahm. Sie könnte, wenn sie gewollt hätte, Stanground natürlich einfach dichtmachen – den Schmuggel stoppen, die Puffmütter in den Ruhestand schicken, die Teksöldner davonjagen. Es war ja praktisch ihre Stadt; im Fernsehen nannte man sie die Königin von Peterborough. Und sie sorgte auch dafür, daß die Polizei alle Exzesse hart unterband, verzichtete jedoch auf eine umfassende Säuberung; heutzutage weniger aus Sentimentalität, sondern eher, weil sie den Bedarf an einem Überdruckventil erkannte, wie es von dem alten Viertel geboten wurde. Im neuen Sektor der Stadt, der sich aus dem Fens-Becken erhob, gab es keine derartige Laxheit.
Vor siebzehn Jahren, als Event Horizon nach dem Sturz der PSP nach England zurückgekehrt war, hatte sich Peterboroughs Infrastruktur den Grenzen der Belastbarkeit genähert. Es wurde damals immer offenkundiger, daß die bestehenden Einrichtungen einfach nicht für die gewaltigen Bauvorhaben Julias und ihres Großvaters reichten. Im Osten wucherte die Stadt bereits bis an die verfaulenden Reste des Castor-Hanglands-Waldes heran und drohte sogar ohne die Schirmherrschaft von Event Horizon, in weiteren zehn Jahren die A1 zu erreichen. Auf Land reichte der Platz einfach nicht für die von Julia und Philip Evans vorgeschlagenen Makroindustrieanlagen.
Die Lösung war recht einfach: Das Fens-Becken war unbewohnt, ungenutzt und ungeliebt, und westlich der Stadt stand das Wasser nur ein paar Meter tief. Also zogen vor fünfzehn Jahren die Baggertrupps und die Bauingenieure hinaus in den Morast und machten sich an den Bau der ersten künstlichen Insel.
Von ihrem Standort im fünfundsechzigsten Stock des Event-Horizon-Turms aus konnte Julia alle neunundzwanzig größeren Inseln des Prior’s-Fen-Atolls sehen, ebenso die fünfzehn neuen, die gerade im
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