Mindstar 03 - Die Nano-Blume
angewandter Logik ab.
Guten Morgen, sagte sie.
Du wirkst heute ein bißchen geschafft, antwortete NN-Kern eins.
Ja, der Newfieldsball gestern abend war ein Reinfall.
Was für eine Überraschung. Ich weiß gar nicht, warum du weiterhin zu diesen Feten gehst.
Um den Schein zu wahren, denke ich, versetzte sie.
Für wen? fragte NN-Kern zwei.
Zwischen den Persönlichkeiten dieser beiden NN-Kerne bestand ein Unterschied, der gering, aber eindeutig war. Kern zwei zeigte eine strengere, stärker matriarchalische Haltung. Julia fand immer, daß sie an dem Tag, als sie ihr Gedächtnis in ihn übertrug, ganz schön verkrampft gewesen sein mußte.
Selbsttäuschung ist das, was die Welt antreibt, sagte Julia.
Falls andere Leute glauben, daß mit dir alles okay ist, glaubst du es vielleicht allmählich selbst, meinte NN-Kern eins.
Ja, so ungefähr, räumte sie ein.
Also hast du immer noch keine Spur von ihm? fragte NN-Kern zwei.
Eine Empfindung drang in das geschlossene Universum ein, ein kalter Schauer der Bestürzung, der ihr über den Rücken lief. Royan wurde jetzt seit acht Monaten vermißt – Liebhaber, Vertrauter, Spießgeselle, Freudenstifter, Bewahrer des Schlüssels zu ihrem Herzen, dunkles Genie, Vater ihrer beiden Kinder, geplagte Seele. War absichtlich untergetaucht, wie nur er es konnte. Acht Monate, und der Schmerz brannte immer noch hell, mit dem jetzt Besorgnis Hand in Hand ging.
Typisch von dir, das zu erkennen, sagte Julia. Gerade du. Das Bewußtsein der Kerne war wie ein Geisternetz über die globalen Datennetze ausgespannt und achtete sorgsam auf Fakten, Geflüster und Klatsch, alles, was sie zum Vorteil von Event Horizon verwenden konnten. Der Informationsfluß wies Muster auf, dünn und wirr, aber für Wesen wie die drei NN-Kerne lesbar. Jeder auf der Welt verriet sich, indem er Daten erzeugte; man konnte weder herumlaufen noch essen oder sich waschen oder Liebe machen, ohne daß es irgendwo in einem Speicherkern registriert wurde. Ausgenommen Royan, dessen Flugbahn keinen Kondensstreifen aus binären Ziffern hinterließ und damit den ausgefeiltesten Aufspürprogrammen spottete, die je entwickelt worden waren.
Was konnte jemand mit Royans brillantem Verstand in acht Monaten zuwege bringen? Und wieso hielt er es vor ihr geheim?
Schattenschwingen des Mitgefühls umhüllten sie, eine schwesterliche Umarmung durch die beiden NN-Kerne.
Mach dir keine Sorgen, Juliet, sagte der dritte NN-Kern barsch. Er kommt zurück. Der kleine Mistkerl hat schon immer solche Sachen draufgehabt.
Danke, Opa, sagte sie.
Die Gedankenmuster von Philip Evans spiegelten forsche Genugtuung wider.
Er war das perfekte Gegengewicht zu den beiden eigenen NN-Kernen, fand Julia; sein Zynismus und seine unverblümte Art dämpften ihren sanfteren Standpunkt. Gemeinsam bildeten sie ein wahrhaft beachtliches Team. Und eines, das nicht so leicht zu kopieren war. Sie wußte, daß einige Kombinate Turingprogramme, die Managerpersönlichkeiten simulierten, in Bioware-Superrechner geladen und gehofft hatten, damit die magische Formel von Event Horizon zu reproduzieren. Viel Erfolg hatten sie dabei nicht gehabt. Instinkt und Zähigkeit und sogar Mitgefühl waren keine Konzepte, die man in ein Programm einbauen konnte. Neuralnetze konnten solche Eigenschaften haben, denn sie waren keine Programme, sondern echte Persönlichkeiten. Bei sechzig Millionen Eurofrancs das Stück war ein NN-Kern nichts, was man auf spekulativer Grundlage anpackte. Und selbst wenn einer gebaut wurde, entstand immer noch die Frage, wessen Sequenzer-RNA man als Vorlage benutzte, wessen Erinnerungen man in ihn übertrug. Und wenn die ausgewählte Person nicht die richtige geistige Struktur hatte, um ein Kombinat zu führen, dann war es zu spät, um noch etwas zu ändern.
Philip Evans hatte sich einen Kern herstellen lassen, weil er ohnehin im Sterben lag. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Bei ihm funktionierte es, weil er ein ganzes Leben an Erfahrungen mitbrachte, was die diktatorische Leitung des Unternehmens anging. Und ihren ersten Kern hatte Julia erst herangezüchtet, nachdem sie bereits sieben Jahre auf dem heißen Stuhl saß.
Ich bin jetzt wieder okay, sagte sie.
Die ungreifbare Unterstützung wich von ihr.
Mein Mädchen! sagte ihr Großvater stolz. In solchen Augenblicken konnte er absurd sentimental reagieren.
Sehen wir zu, daß wir mit der Liste des heutigen Morgens fertig werden, sagte Julia. Sie öffnete das Bewußtsein für den Stoß an
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