Minerva - sTdH 1
erzählt niemandem etwas.
Aber wenn Annabelle als erste heiratet, bedeutet das, daß du nicht nach London
zu gehen brauchst. Ich bin nicht so geldgierig, und ein Vermögen in der Familie
ist genug. Wir können warten, bis die anderen Mädchen groß sind, wenn du hier
bleiben willst.«
Minervas
Gefühle waren gemischt. Eine Minute vorher hätte sie noch geschworen, daß ihr
die ganze Sache mit London zuwider war, aber jetzt, wo sie ihr zu entgehen
schien, fühlte sie die alte, erdrückende Langeweile wieder aufkommen.
»Es ist
schade, daß sich Comfrey nicht in dich verliebt hat«, seufzte der Pfarrer.
»Aber das wäre wohl zu hoch gegriffen.«
»Vielleicht
ist er schon anderweitig gebunden«, sagte Minerva auf gut Glück. »Als ich ihn
das erste Mal sah, war er mit zwei anderen Herren und zwei ausnehmend eleganten
Damen zusammen. Vielleicht ist eine von ihnen ...?«
»Ach, die«,
rief der Pfarrer aus. »Amaryllis Wadham und Jennie Delisle – das sind zwei ganz
überspannte Personen. Sehr teuer.«
»Du meinst ...«
»Ja. Aber
ich sollte mit dir nicht über solche Dinge reden. Damen wie du sollten gar
nicht wissen, daß es solche Frauen gibt.«
»Aber sie
waren so imposant, so hochmütig und so gut angezogen!«
»Nicht
einmal Herzoginnen sind imposanter als eine Edeldirne«, bemerkte der Pfarrer
beißend. »Ich weiß da Bescheid, ich ... Aber, was sag' ich! Raus mit dir!
Diese Art von leichten Mädchen ist für einen Mann ruinöser als Spielen oder
Trinken. ›Der dein Gut mit Dirnen verpraßt hat.‹ Lukas, Kapitel fünfzehn,
Vers dreißig. Ja, so ist es!«
Jetzt, wo
Minerva das glückliche Paar ihr gegenüber beobachtete, konnte sie sich nur
fragen, warum sie die Aussicht, daß die beabsichtigte Saison in London
ausfiel, nicht mit mehr Erleichterung erfüllte. Sie war doch jetzt frei, sich
guten Werken und dem Wohlergehen ihrer Familie zu widmen.
Gut, dann
konnte sie gleich einmal damit beginnen, indem sie der Unterhaltung lauschte.
»Ihre
Bergbaugeschäfte in Afrika«, sagte der Pfarrer gerade. »Ich meine, Sie haben
Annabelle erzählt, daß Sie was mit Elfenbein zu tun haben.«
»Schwarzes
Elfenbein, Mr. Armitage«, sagte Guy Wentwater, sein Weinglas in der Hand
drehend. Ein geheimnisvolles Lächeln verschleierte seine Augen.
Das Gesicht
des Pfarrers lief dunkelrot an, und einen furchtbaren Moment lang dachte
Minerva, er würde einen Schlaganfall erleiden.
Dann wurde
er ebenso weiß wie er vorher rot geworden war, und er sagte ruhig und
wohlüberlegt: »Ihr Handel gefällt mir nicht, Sir!«
Mr.
Wentwater zuckte fast unmerklich mit den Achseln, als ob er das alles schon oft
gehört hätte.
Daphne, die
dreizehnjährige, die die Familie mit ihrem hochgesteckten
Haar überrascht hatte, weil sie erwachsen aussehen wollte, sagte geziert: »Ich
verstehe nicht, was los ist, Papa. Wir brauchen schwarzes Elfenbein, sonst
hätten wir doch keine schwarzen Tasten am Klavier?«
»Ruhe!«
brüllte der Pfarrer. »Mr. Wentwater meint Sklaven. Der Handel mit schwarzem
Elfenbein ist ein Handel mit menschlichen Seelen und Leibern. Den vielen Jimmys
wird ein Mal eingebrannt, und auf den Westindischen Inseln werden sie wie Vieh
aus den Schiffen getrieben.«
Mr.
Wentwater drückte ein Spitzentüchlein gegen seine Lippen, um ein Lächeln zu
verbergen. Es war wohl zu erwarten, daß ein Pfarrer als Mitglied der Kirche von
England sich verpflichtet fühlte, Eindruck zu schinden. Aber er war überzeugt
davon, daß seine Familie anderer Ansicht war.
Da täuschte
er sich jedoch. Die Armitages hatten ihre ganz persönliche Ansicht zu dem Problem
des Sklavenhandels.
Der Graf
von Osbadiston hatte nämlich einen schwarzen Butler namens Jimmy, den alle
Armitages kannten und bei ihren seltenen Besuchen trafen. Jimmy war für die
jungen Armitages eine Art Halbgott. Er konnte Wurfmaschinen bauen, Puppen aus
verschiedensten Materialien herstellen und sogar Mrs. Armitage bei ihren
verschiedenen eingebildeten Leiden gut beraten. Dazu kam, daß die Familie Armitage
im Jahr vor der Abschaffung des Sklavenhandels 1807 einige Zeit bei
wohlhabenden Verwandten – nämlich der Cousine der Mutter – in Bristol verbracht
hatte. Dort hatten sie schreckliche Geschichten vom Leiden und Sterben der
Neger gehört, die über den Ozean transportiert und dabei schlimmer als Tiere
zusammengepfercht wurden.
Deshalb
lehnten sie den Sklavenhandel ab – im Gegensatz zu den meisten Engländern, die
entweder gar nicht recht Bescheid wußten oder, falls
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