Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Minerva - sTdH 1

Minerva - sTdH 1

Titel: Minerva - sTdH 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Chesney
Vom Netzwerk:
begann statt dessen von neuem zu weinen. Er saß
ganz still da, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte, und tauschte lediglich das
winzige feuchte Spitzentüchlein, das ihr als Taschentuch diente, gegen sein weitaus
größeres ein.
    Nach
einigen trockenen Schluchzern kam sie schließlich mit der Geschichte von Lady
Godolphins unmoralischem Verhalten heraus.
    Lord
Sylvester mußte sich auf die Lippen beißen, um ein Lächeln zu unterdrücken.
    »Und Oberst
Brian ist verheiratet«, schluckte Minerva. »Sie begeht Ehebruch.«
    »Ja, das
ist alles sehr schlimm«, sagte er. »Was mich überrascht, ist, daß Ihre
Ladyschaft nicht vorsichtiger ist. Ich meine, in aller Ruhe zuzulassen, daß Sie
...«
    »Nein, das
hat sie nicht.« Und Minerva erzählte ihm unter heftigem Erröten, wie sie Lady
Godolphin vorgelesen hatte, während Oberst Brian unter der Bettdecke versteckt
war.
    Lord
Sylvester bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Er versuchte, sein Lachen zu
unterdrücken, aber er schaffte es einfach
nicht. Schließlich gab er den Kampf auf und brüllte vor Lachen. Während er Atem
holte, erklärte er, daß die Geschichte besser als eine Komödie sei.
    Minervas
Kummer und Verlegenheit wichen einem Wutausbruch.
    »Sie sind
allesamt genauso schlecht«, wütete sie. »Unmoralisch, sündig, sittenlos ...«
    »Halt!«
sagte Lord Sylvester und trocknete seine Augen mit einem neuen Taschentuch, das
er aus seinen Rockschößen hervorholte.
    »Schauen
Sie, meine Liebe, Sie werden diese Dinge verstehen, wenn Sie älter sind. Es
ist sehr nett von Lady Godolphin, daß sie Sie in dieser Saison in die
Gesellschaft einführt. Ihre Moralvorstellungen sind sehr locker ... aber Ihre
sind sehr streng. Eine Menge Damen benehmen sich nicht anders, und keiner
stößt sich daran, solange sie verschwiegen sind. Schauen Sie mich nicht so an.
Ist Lady Godolphin etwa nicht nett? Schlägt sie ihre Dienstboten? Nein. Sie
können andere Leute nicht ändern, Minerva. Versuchen Sie, ein bißchen
toleranter zu sein. Ich gehe mit Ihnen zurück, so daß Sie mich als Stütze
haben, wenn Sie Lady Godolphin gegenübertreten. Es ist das beste, die ganze
Sache zu ignorieren.«
    »Ich hätte
nie gedacht, daß ich Hopeminster so sehr vermisse«, sagte Minerva leise.
    »Aber Sie
sind neu in der Stadt. Ist es nicht noch ein bißchen zu früh für Heimweh? Eine
junge Dame wie Sie hat so viel Abwechslung in der Stadt, verglichen mit dem
ruhigen Leben auf dem Land.«
    »London
wirkt abstoßend auf mich«, sagte Minerva langsam. »Ich will nicht schon wieder
eine Moralpredigt halten. Aber ich habe mir London immer als eine Art
mittelalterlicher Burg vorgestellt: Alle Mauern und Türme waren in das Licht
eines klaren Tages getaucht. Ritterlichkeit, Ehre und Geist herrschten darin.
Ich finde einen Großteil der Gesellschaft schlicht und einfach flegelhaft. Und
schon allein die Luft! Ich kann in der stickigen Atmosphäre kaum atmen, und
die Abwässer riechen so entsetzlich. Das Brot ist sauer, das Fleisch zäh, das
Wasser abgestanden und die Milch bläulich. Wir haben auch unsere Freuden in
Hopeworth. Wir machen das Beste aus dem, was dort los ist, wissen Sie: das Bad
für die Schafe, die Schafschur, das Fällen eines großen alten Baumes, das Fest
des Dorfvereins, das Erntefest und das Absengen eines fetten Speckschweins ...«
    »Das ›was‹?«
    Minerva
lächelte: »Ich muß sehr ländlich klingen. Wir haben einen Schweinesenger im
Dorf, den alten Mr. Toms, der einem
ganz fetten toten Schwein mit Hilfe von mehreren Lagen Stroh die Haare absengt,
ohne ihm die Schwarte zu verbrennen. Hinterher hat es die schönste Meerschaumfarbe.«
    »Sie haben
kein Theater, keine Oper?«
    »Wir haben
den Mummenschanz an Weihnachten. Da tritt immer
der Heilige Georg mit einem echten Schwert auf, der König von Ägypten, den er
schlägt, und der Wunderheiler. Ich glaube, die Spiele sind sehr alt. – Und ich hatte das
Gefühl, daß ich dort gebraucht wurde. Ich konnte den Leuten helfen.«
    »Sie müssen
Ihr eigenes Leben leben. Man kann nicht sein ganzes Leben lang für andere Leute
leben«, sagte Lord Sylvester.
    Minerva
wollte antworten: ›Ich weiß nicht, was Sie meinen. Man soll doch für andere
da sein‹, aber statt dessen hörte sie sich sagen: »Haben Sie mir das Gedicht
und die Blumen geschickt?«
    »Es ist die
Veränderung vom Land in die Stadt, die Sie so mitgenommen hat«, sagte er und
ließ sein Auge über die grüne
Parkfläche zu einer Herde friedlich grasender Kühe schweifen.

Weitere Kostenlose Bücher