Mira und der weiße Drache (German Edition)
Zauberer in Tiere. In der Dunkelheit konnte Mira gerade noch die schwarzen Schatten erkennen, die wispernd oder krächzend davonflogen, -krochen oder -huschten. Einzig Rabeus und Xenia starrten sich noch wütend an. Dann verwandelte sich der Junge in einen Luchs und Xenia in einen Dachs. Die beiden Tiere standen sich noch eine Weile gegenüber und sperrten kurz ihre Mäuler auf, sodass Mira schon dachte, sie gingen aufeinander los. Doch dann drehten sie sich um und verschwanden zwischen den mächtigen alten Eichenstämmen.
Es raschelte und wisperte noch ein wenig, doch nach kurzer Zeit war außer dem Rauschen der Bäume nur das gelegentliche Schluchzen von Miranda zu vernehmen, die nun ganz allein in ihrem Bannkreis saß. Mira hüpfte vorsichtig aus ihrem Laubhaufen heraus, schüttelte sich ein paar Blätter ab und flatterte zu ihr.
Miranda sah klein und verletzlich aus, wie sie da zusammengesunken auf dem kalten Waldboden kauerte. Sie hatte den Kopf zwischen ihre Hände genommen und weinte. Erst nach einer Weile blickte sie auf und bemerkte schließlich den kleinen Vogel, der zitternd außerhalb des Kreises stand.
Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Wer bist du?« »Eine Freundin«, dachte Mira und hoffte, Miranda würde sie nicht an ihrer Stimme erkennen. Doch die schien nichts zu bemerken. »Geh lieber, sonst bekommst du noch Ärger«, sagte sie.
»Ich habe keine Angst«, dachte Mira, obwohl sich ihr Federkleid vor Aufregung sträubte. »Ich will dir helfen.«
Miranda zögerte ein wenig und sah sich den kleinen Vogel an. »Ich mag Amseln, ich bin selbst eine«, sagte sie. »Ich weiß, deshalb bin ich hier«, dachte Mira.
»Gut«, dachte Miranda. »Es gibt nur eine Hexe, die mächtig genug ist, mich hier herauszuholen. Die Hexe Fa!«
»Wie komme ich zu ihr?«, fragte Mira entschlossen.
»Wenn du aus dem Wald fliegst, wende dich nach Norden, immer die Bahngleise entlang. Nach ungefähr zwei Stunden siehst du ein kleines Haus direkt neben den Gleisen. Es ist sehr schief und hat ein grünes Dach und einen wunderbaren Garten.«
»In Ordnung«, dachte Mira.
»Ich danke dir, wer auch immer du bist und warum auch immer du mir helfen willst …«, dachte Miranda. Mira wollte gerade aufflattern, als ihr noch etwas einfiel. »Wo bitte ist Norden?« Miranda lachte rau. »Du bist mir schon ein komischer Vogel. Flieg Richtung Vollmond.«
»Zum Vollmond zur Hexe Fa!«, dachte Mira und flatterte auf. Bald erreichte sie die Wipfel der alten Eichenbäume und konnte unten Miranda klein und verloren auf der Lichtung sehen. Miranda hob die Hand und winkte ihr zu. Der Mond stand nun höher und war kleiner und kälter.
Am Saum des Waldes sah Mira weit unter sich silbern die Bahngleise schimmern und begann ihnen zu folgen.
9. Kapitel
in dem Mira fast in einem Suppentopf landet
Die alte Hexe Fa war heute eigentlich sehr zufrieden mit sich. Sie hatte ihr Haus winterfest gemacht. Mit mehreren Schutzzaubern gegen den pfeifenden Wind, gegen die beißende Kälte und gegen neugierige Blicke. Denn bald würden die knorrigen alten Bäume im Garten ihr Laub abwerfen und den Blick freigeben auf das verwinkelte Häuschen neben den Bahngleisen. Der Zauber der Hexe bewirkte, dass man das Häuschen zwar sehen konnte, aber gleich darauf wieder vergaß. Und wie die meisten weißen Zauberer verstand sich die Hexe Fa gut auf Vergessenszauber, sodass in vielen Jahren kein ungebetener Gast in ihrem Häuschen aufgetaucht war.
Trotz all dieser Maßnahmen fühlte sie sich nicht recht wohl. Das lag wohl zum großen Teil daran, dass ihr rechtes Knie seit heute Nachmittag wieder juckte. Und Kniejucken bedeutete fast nie etwas Gutes. In den meisten Fällen − das musste die alte Hexe leider zugeben − bedeutete es sogar Unheil oder, wenn sie Glück hatte, nur etwas Unvorhergesehenes.
Dabei hatte die Hexe nun wirklich wenig Interesse an Unvorhergesehenem. Schließlich war bald Winter, und sie freute sich darauf, ruhige Abende mit einem (oder um ehrlich zu sein mehreren) Gläschen Krötenpunsch vor dem Kamin zu verbringen und den Flammen beim Fressen der Holzscheite zuzusehen.
Um sich von diesem lästigen Kniejucken abzulenken, begann sie an diesem Abend ihre Suppe zuzubereiten. Schließlich war Vollmond!
Und immer bei Vollmond pflegte die Hexe Fa ihre berühmte Suppe zu kochen. Die Hexe Fa war berüchtigt in der Zauberergesellschaft, und man sagte ihrer Suppe nach, dass sie Krankheiten heilen und das Leben verlängern würde.
(Andere
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