Mira und der weiße Drache (German Edition)
unten sah, erblickte sie statt ihrer Füße Krallen! Auch ihre Arme waren nicht mehr Arme, sondern Flügel. Und sie konnte sie sogar bewegen! Schließlich flog sie mit drei kurzen Flügelschlägen zum Fensterbrett, auf das sie aufsetzte. Das war gar nicht so schwer! Sie wandte den Kopf und sah sich für einen kurzen Moment in dem goldenen Standspiegel.
Sie war tatsächlich eine Amsel geworden. Klein, mit braunem Gefieder und etwas plump. Mira blickte durchs offene Fenster nach unten. Aus der Dämmerung leuchtete ihr die rote Buche aus dem Garten entgegen. In der Ferne sah sie die Dächer der Stadt, die golden im Licht der untergehenden Sonne glänzten. Mira breitete ihre Flügel aus und stürzte sich in die Tiefe.
Zuerst dachte sie, sie würde geradewegs in die Blätter der Rotbuche stürzen, und Panik stieg in ihr auf, aber als sie die Flügel ausbreitete und die Spitzen leicht anwinkelte, spürte sie, wie der Wind sie trug. Es war, wie bäuchlings auf Kissen zu liegen, die sich bewegten.
Sie war leicht, frei und sie flog.
Das Leben als Vogel war wunderbar. Nicht nur, dass Mira nun eine andere Gestalt hatte, nein, auch wie sie sah und dachte, schien sich zu verändern. Mira flog und fühlte sich mutiger, als sie sich je als Mensch gefühlt hatte. Sie spürte die Luft und legte sich in sie hinein. In weiter Ferne sah sie Miranda − einen kleinen schwarzen Punkt, den sie versuchte zu verfolgen.
Sie überquerte die Garagenhäuschen, deren grüne und blaue Tore nun in der Dämmerung nicht mehr zu unterscheiden waren. Dann flog sie über die Altstadt mit ihren kleinen Läden und den Lichtern, die unten angeknipst wurden. Dunkel ragten die beiden Türme der Burg in den Dämmerungshimmel.
Hinter der Burg lag ein Eichenwald − schwarz und unheimlich. Hier war es kälter als über der Stadt mit den beruhigenden Lichtern. Aus den finsteren Laubbäumen schlug Mira eine kühle Feuchtigkeit entgegen.
Dann flog Miranda plötzlich tiefer und wurde unversehens von den dunklen Bäumen verschluckt. Auch Mira ließ sich fallen und flog auf die Baumwipfel zu. Sie streifte ungeschickt die Äste mit ihren Flügeln, trudelte zwischen Zweigen und Blättern nach unten und hatte für eine Weile völlig die Orientierung verloren. Die Äste knackten, und plötzlich fand sich Mira in einem feuchten Laubhaufen wieder.
Sie schien sich nichts gebrochen zu haben. Nur ein paar Blätter fielen auf sie herab. Ein Igel, der es sich hier gemütlich gemacht hatte, zog mit empörtem Schnaufen von dannen.
Landen war also nicht so einfach! Mira befreite sich von den Blättern und zog mit ihrem Schnabel einen kleinen Zweig aus dem Gefieder. Ihr winziges Vogelherz hämmerte in ihrer Brust.
Vor ihr war eine Lichtung, auf der ein Lagerfeuer brannte. Um das Feuer saßen Frauen und Männer in abgetragener Kleidung. Sie sahen grimmig aus und fremd. Die Flammen warfen ihr flackerndes Lichtspiel auf ihre ernsten Gesichter. Die kleine Amsel landete in ihrer Mitte. Sie schüttelte sich und war plötzlich wieder Miranda. (Spätestens jetzt fragte sich Mira, wie sie sich denn eigentlich wieder zurückverwandeln sollte.)
Mira hüpfte ein wenig nach vorne und konnte jetzt die Versammlung näher betrachten. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters saßen auf dem blanken Boden und rutschten ungeduldig hin und her. Manche der Frauen trugen weite Röcke, die anderen alte geflickte Jeans. Die Männer hatten Jacketts und Mäntel an und alle machten einen schäbigen Eindruck. So als wären sie sehr arm oder würden für längere Zeit im Freien leben. Außerdem sah es so aus, als ob die meisten der Zauberer gleich wieder wegwollten und eigentlich Besseres und vor allem Dringenderes zu tun hatten, als hier zusammenzusitzen. Miranda war bei Weitem die jüngste von allen. Nur ein Junge mit glänzenden schwarzen Haaren, aus denen eine einzige schneeweiße Strähne hervorblitzte, wirkte nicht viel älter als sie. Er saß ebenfalls auf dem Boden, zeichnete mit einem Stock etwas auf die Erde und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich eine große Frau mit langen, weißen Haaren erhob. »Du kommst spät!«, sagte sie mit rauer Stimme zu Miranda, die sich mit gesenktem Kopf in den Kreis setzte.
»Entschuldigt!«, erwiderte Miranda kleinlaut. Ihre Stimme klang eigenartig leise, so wie Mira sie noch nie gehört hatte.
Eine große, junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit mausbraunen Haaren starrte Miranda an. »Es ist nicht üblich, zu spät zu kommen«, sagte sie
Weitere Kostenlose Bücher