Mira und der weiße Drache (German Edition)
Speisen, ich verkaufe Sehnsüchte.«
Er ging zu einem großen, weißen Schrank und öffnete die Tür. Vorsichtig nahm er eine kleine silberne Dose heraus und zog ihren Deckel ab. »Hier, Mira, riech!« Mira nahm die Dose in die Hand und steckte ihre Nase hinein. Ein würziger Duft kam ihr entgegen. Es roch nach dem Schatten dunkler Tannenbäume, nach harzigen Baumwipfeln, nach Moos und feuchtem Gras. Mira spürte plötzlich den Wind und die Wolken, und ein schier unbezähmbares Verlangen zu fliegen überkam sie.
Hippolyt nahm ihr die Dose wieder weg und drückte den Deckel auf den Verschluss. »Tannenwurz«, sagte er nur knapp, als er die Dose wieder in den Schrank stellte. »Siehst du, Mira, wer einmal ein Tier war, möchte es immer wieder sein. Eigentlich ...«, schloss Hippolyt träumerisch, »... möchte man nichts anderes mehr sein.«
In diesem Moment klopfte es energisch an der Tür, die zum Restaurant führte. Hippolyt zuckte zusammen. »Ich komme!«, rief er eilig. »Schnell, versteck dich!«, flüsterte er Mira zu und schob sie hinter den großen Gewürzschrank. Dort kauerte sie sich zusammen und beobachtete durch einen Spalt, wie Hippolyt die Tür öffnete. Mira hielt vor Schreck den Atem an. Herein trat die schwarze Hexe.
Hippolyt begrüßte sie überschwänglich. »Pia! – Wie schön, dich hier begrüßen zu dürfen.« »Hallo, Hippolyt!«, sagte Pia kühl und gab dem dicken Koch zwei angedeutete Wangenküsschen. Dann sah sie sich rasch in der Küche um. Für einen kurzen schreckensstarren Moment hatte Mira das Gefühl, dass sie sie sehen konnte, obwohl sie sich in sicherer Entfernung hinter der Schranktür verbarg. Die Hexe aber wandte den Blick ab, schlenderte zu dem großen Suppentopf, öffnete den Deckel und sog den Geruch ein. Hippolyt wieselte hinter ihr her. »Das ist nicht schlecht, lieber Hippolyt«, sagte die Hexe. »Ach …«, erwiderte Hippolyt bescheiden. »Nur etwas Käferbouillon von den frischesten Maikäfern aus der Provence«, fügte er nicht ohne Stolz hinzu. Die Hexe nickte und bemerkte dann den Porzellanteller mit dem angebissenen Butterbrot, der auf der Anrichte stand. Sie nahm ihn hoch und schnippte mit ihren dünnen, spinnenbeinigen Fingern einen Krümel herunter.
»Du hast nicht zufällig hier ein Menschenmädchen gesehen?« Hippolyt zuckte mit den Achseln, nahm das Butterbrot und biss betont fröhlich hinein. »Menschen? Keine Ahnung. Du weißt, es kommen immer wieder Menschen zum Essen hierher.«
»Ich weiß, lieber Hippolyt, du brauchst mich nicht für dumm zu verkaufen. Ich meinte vorhin hier ein Menschenmädchen gesehen zu haben, mit dem ich mich gerne unterhalten würde.« Hippolyt zog seine Schultern hoch. »Keine Ahnung, wir haben hier so viel zu tun, da kann ich mich nicht um alle meine Gäste kümmern. Und um ein einzelnes Menschenmädchen schon gar nicht.« »So, so …«, sagte die Hexe und sah sich weiter in der Küche um. Dann ging sie zum Gewürzschrank, hinter dem Mira versteckt war, und nahm eine Dose heraus. Fast liebevoll strich sie über den Deckel und blickte dann auf das Etikett. »Dieses Kind hat mich schon den ganzen Weg von meinem Haus bis hierher verfolgt«, sagte sie wie zu sich selbst.
Miras Herz klopfte wie wild. Bald würde sie niesen müssen! Oder sich räuspern! Am liebsten hätte sie laut »Hier bin ich!« geschrien, doch in diesem Moment sprang Hippolyt dazwischen. Er nahm Pia die Gewürzdose aus der Hand und stellte sie zurück in den Schrank. »Jetzt möchte ich dich aber bitten zu gehen, Pia!«, sagte er plötzlich streng. »Dies ist meine Küche und wir haben viel zu tun.«
»Seit wann erteilt ihr weißen Zauberer uns denn Befehle?«, fragte die Hexe lauernd und zog ihre gezupften Augenbrauen hoch. Hippolyts Lächeln gefror auf seinem pausbäckigen Gesicht. Er schnappte sichtbar nach Luft.
»Das, das ... Heuschrecken-Carpaccio muss ja noch zubereitet werden«, rief er und verbeugte sich entschuldigend. Die Hexe seufzte und ging zur Tür. »Nun gut«, erwiderte sie und hob daraufhin ihre Stimme. »Vielleicht sollte das Mädchen nur wissen, dass jemand, den sie mag, in, nun wie soll ich sagen, in einer misslichen Lage ist. Bis dann und auf Wiedersehen!«
Sie reichte Hippolyt ihre schmale Hand, und er nahm sie in die seine, die auffällig zitterte. Hippolyt verbeugte sich und deutete einen Handkuss an. »Komm bald wieder, Pia, es ist mir immer eine große Freude«. »Tatsächlich?«, sagte die Hexe mit einem spöttischen Lächeln. Dann
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