Mira und der weiße Drache (German Edition)
Menschengesichter auf den Brunnen und Dächern, an den Türen und Fenstern in seine Richtung und riefen ihm Grußworte oder Unverschämtheiten hinterher. Als sie in eine Straße kamen, auf der sich viele Menschen befanden, stopfte Mira den Zwerg kurzerhand ganz zurück in ihre Umhängetasche, um kein Aufsehen zu erregen. Darüber war er allerdings so erbost, dass er sich eine Weile weigerte, mit Mira zu sprechen.
Mira fragte sich indessen, ob es so eine gute Idee gewesen war, den Zwerg mitzunehmen, denn er ging ihr bereits gehörig auf die Nerven. Außerdem war er auf Dauer ziemlich schwer.
Nachdem Mira die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, die Gasse jemals zu finden, und der Zwerg sich eine Weile mit einer Brunnenfigur herumgestritten hatte, die ihm angeblich auf den Kopf gespuckt hatte, entdeckte Mira plötzlich das Schild Silberne-Fisch-Gasse an einer bröckeligen Hausmauer. Ihr Herz klopfte schneller. Diesmal waren sie nicht durch den lichtlosen Weg gekommen, sondern von der anderen Seite. Die Silberne-Fisch-Gasse lag vor ihnen, dunkel und unheimlich in der Dämmerung. Die Sonne war bereits untergegangen, doch die Laternen noch nicht erleuchtet. Wie nachtschwarzer Samt zog sich der dunkle Fluss dahin, auf dessen Wellen ab und zu ein weißes Licht aufblitzte.
Die Gasse war menschenleer und der Zwerg sah sich neugierig um.
»Es ist das Haus da vorne«, flüsterte Mira. »Ich weiß«, sagte der Zwerg, »ich kann die Fischköpfe erkennen.« Mira überlegte. »Es wäre sicher nicht klug, durch die Vordertür zu gehen.« »Ach!«, sagte der Zwerg hämisch.
»Vielleicht gibt es ja noch einen anderen Eingang, der nicht bewacht ist«, überlegte Mira laut. »Ich wette mit dir, jeder Eingang zu diesem Haus ist bewacht«, raunte der Zwerg.
Leise schlich sich Mira auf die Brücke, die zum Nachbarhaus führte, duckte sich und beobachtete das Hexenhaus durch das schmiedeeiserne Brückengeländer. Dabei hoffte sie inständig, dass es dunkel genug war, um nicht von den unheimlichen Fischköpfen entdeckt zu werden.
Unter der Brücke führte eine kleine Treppe zur Kellertür des Hauses von Pia Fraus. Mira atmete tief durch. Sollte sie versuchen, durch den Keller in das Haus einzudringen, um Miranda zu befreien?
Sie steckte den Zwerg wieder tief in ihre Umhängetasche, kletterte über das Geländer und machte dann einen Satz auf das kleine Steinufer vor dem dunklen Haus. Um ein Haar wäre ihr dabei der Zwerg aus der Tasche und ins Wasser gerutscht. »Ich kann nicht schwimmen!«, jammerte er. »Das habe ich mir fast gedacht«, erwiderte Mira und drückte ihn in die Tasche zurück.
»Siehst du, über der Kellertür ist auch ein Maskaron!«, rief der Zwerg triumphierend. Mira kniff die Augen zusammen und sah zum Haus.
Das Gesicht einer hübschen jungen Frau ragte über der Kellertür aus der Mauer. Um den Kopf der Nixe ringelten sich lange Haare, in denen sich kleine steinerne Fische verfingen. »Los«, sagte der Zwerg zu Mira, »stell mich hier ab, ich werde sie ablenken, und wenn ich dir ein Zeichen gebe, kannst du ganz schnell im Keller verschwinden.«
Mira blickte sich um. Unter der Brücke fand sie einen großen Stein. Den nahm sie, legte ihn schräg vor die Tür und lehnte den Zwerg dagegen. Dann versteckte sie sich unter der Brücke. Unter ihr rauschte das dunkle Wasser.
»Pscht!«, rief der Zwerg.
Doch der Maskaron sah nur stur gerade aus.
»Pschscht!!!«
Langsam bewegte sich der steinerne Kopf der jungen Frau. Sie blickte überrascht und suchend auf das Wasser. Mira duckte sich noch mehr unter die Brücke. »Ich bin hier unten«, sagte der Zwerg leise. Die Meerjungfrau wandte den Blick jetzt weg vom Fluss und sah zum Steinufer hinüber. Als ihre Augen den Zwerg fanden, sah sie zunächst verwirrt aus, lächelte aber dann.
»Wie hübsch!«, rief sie schließlich mit feiner, leiser Stimme.
Wäre es ihm möglich gewesen, dann wäre der Zwerg sicher einfach umgefallen. So hatte er allerdings Miras Stein im Rücken. »Hübsch?«, fragte der Zwerg entgeistert.
»Ich habe noch nie einen so stattlichen Zwerg gesehen«, ließ der weibliche Maskaron schüchtern vernehmen. Der Zwerg schwieg lange. »Ja«, sagte er schließlich verlegen.
»Und diese bezaubernde Laterne«, sagte die Meerjungfrau bewundernd.
»Äh, sie ist ein Erbstück ...«, erklärte der Zwerg geschmeichelt, »... von meinem Vater, dem Großen Gilbert.«
»Oh«, säuselte die Meerjungfrau. »Wie wundervoll!«
Der Zwerg räusperte sich. »Und was
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