Mira und der weiße Drache (German Edition)
Verantwortung übernehmen? Deine Freunde, die weißen Zauberer etwa? Mit ihrem Geschwätz, ihren endlosen Diskussionen, ihrer Menschenfreundlichkeit und ihrem naiven Glauben an das Gute? Sie sind mir zutiefst zuwider in ihrer endlosen Faulheit und Beschränktheit.« Die Hexe atmete tief durch und blickte wieder Mira an.
»Hätten wir nicht die Macht übernommen, die Zauberwelt läge in Trümmern. Von uns wäre nichts, aber auch gar nichts mehr übrig außer ein paar lächerlichen Erzählungen, die man kleinen Kindern auftischt.«
»Aber ihr habt den weißen Zauberern doch alles genommen, sie verdrängt, wo es euch möglich war!«, wagte Mira einzuwenden. Ihre Stimme klang seltsam rau, so als ob sie gar nicht zu ihr gehörte. »Nun«, die Hexe zog die Augenbrauen hoch. »Ist das wirklich unser Problem? Keiner zwingt sie, dieses Leben zu führen. Sie müssen nur diese lächerlichen Verwandlungen aufgeben und sich auf unsere Seite schlagen. Dort finden sie Reichtum, Macht und vor allem das mächtige Zauberwissen, das ihnen nach und nach verloren geht. Aber wenn ...«, und hier lächelte sie höhnisch, »... wenn sie lieber in Armut leben und ihren Spinnereien nachgehen wollen, bitte, ich werde sie bestimmt nicht daran hindern!«
Sie nahm ein Holzscheit von einem großen Stapel, der neben dem Kamin lag, und warf es in das Feuer. Die Flammen züngelten um das Holz und ein paar Funken stoben nach oben.
»Hast du dir mal überlegt, was passieren könnte, wenn die weißen Zauberer das Buch in ihren Besitz bekämen? Das gesammelte magische Geheimwissen vieler Jahrhunderte? Weißt du, was sie damit machen werden? Sie werden es den Menschen verraten. Das Wissen muss aber unter uns bleiben, verschlüsselt und nur einem kleinen Kreis zugänglich. Nur dann bleibt unsere Macht bestehen.«
Mira kratzte sich verwirrt an der Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Warum erzählte ihr die Hexe das alles? Und was hatte das mit ihr zu tun?
Die schwarze Hexe lächelte und sah Mira erwartungsvoll an.
»Es war sehr klug von dir, den weißen Zauberern das Buch nicht zu überlassen. Gib es mir, und du wirst es sicher nicht bereuen!«
18. Kapitel
in dem ein Schmetterling befreit wird
»Das Buch?«, brachte Mira mühsam hervor. Sie brauchte eine Weile, bevor sie begriffen hatte, was die Hexe da eben zu ihr gesagt hatte. »Sie wollen das Buch von mir?«
Die schwarze Hexe kniff die Augen zusammen und starrte Mira an. »Was soll ich denn sonst von dir wollen?« Sie ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf einen hölzernen Drehstuhl. »Das verschwundene Buch, das Buch der Metamorphosen ! Die meisten von uns glaubten nicht daran, dass es tatsächlich existiert. Aber ich habe daran geglaubt. Die ganze Zeit. Viele Jahre lang habe ich alles, was ich darüber finden konnte, gesammelt. Jahrhundertelang war es in dem Turm verschwunden, aber nun ist es wieder sichtbar geworden.«
Mira blickte sich in der Kammer um. Sie war voll mit Büchern und seltsamen Bildern, die an der Wand hingen oder auf dem Fußboden standen und gegen die Regale lehnten.
Neben dem Schreibtisch befand sich ein lang gezogenes Bild, in dem Tiere ihre Form wechselten. Mira konnte zu beiden Seiten der Zeichnung Quadrate sehen, die wie ein Schachmuster angeordnet waren. Zwischendrin hatten sich Bienen in Vögel, die Vögel in Fische und die Fische in kleine Eidechsen verwandelt. Diese Zeichnung nahm Miras Aufmerksamkeit eine Weile gefangen, und sie war fasziniert, wie ein Tier aus dem anderen herausschlüpfte.
Die schwarze Hexe folgte Miras Blick. »Es gibt Bilder aus dem Buch, die sind sehr bekannt. Hier ist eine Zeichnung davon.« Sie seufzte. »Aber ohne die Drachen sind diese Zeichnungen wertlos. Keiner kann ohne die Drachen die Geheimnisse entschlüsseln.«
»Und was sind das für Geheimnisse«, fragte Mira, während das seltsame Bild sie immer noch in seinen Bann schlug.
»Das Geheimnis, wie man von einem Ort zum anderen gelangt, ohne sich zu bewegen, das Geheimnis, wie man die Zeit überwindet, und schließlich das größte Geheimnis von allem.« Die Hexe machte eine lange Pause, bevor sie weitersprach. »Das Geheimnis der Unsterblichkeit!« Sie sah Mira lange an. In ihrem Blick lagen Traurigkeit und Sehnsucht.
»Keiner hat mehr über dieses Buch zusammengetragen als ich. Niemand weiß besser darüber Bescheid.«
Sie erhob sich und trat auf Mira zu. »Wer, wenn nicht ich sollte die rechtmäßige Besitzerin der Metamorphosen sein?«
Die Nähe der Hexe
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