Mira und der weiße Drache (German Edition)
ab und wartete, bis das Heulen des Windes abebbte. Dann strich sie mit dem Zeigefinger über das Papier und sprach so leise, dass es die anderen kaum verstanden:
»Vorstellung der Gedanken Halt,
aus luft’gem Nichts nimm an Gestalt.«
Sie holte tief Luft und blies vorsichtig auf die beiden Buchseiten. Dann drehte sie sich zu Miranda, die sie völlig entgeistert angestarrt hatte, und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Miranda nickte unmerklich. Aus den Augenwinkeln konnte Mira beobachten, wie weitere Blätter durch den Türschlitz in das Restaurant wehten. »Merkwürdig«, dachte sie einen Augenblick, »sie sehen gar nicht aus wie normales Laub.«
Die Blätter waren schwarz und glänzten bläulich.
Hippolyt hatte von all dem nichts bemerkt, denn sein Blick war gebannt auf die Zeichnung gerichtet. Er atmete schwer. Wieder schien es eine Unendlichkeit zu dauern, doch dann schälte sich aus der Zeichnung eine weiße, schimmernde Pfote mit gläsernen Krallen. Die Pfote setzte behutsam auf der Seite auf, und schließlich begann sich auch die zweite weiße Vorderpfote zu bewegen. »Nein!«, rief Hippolyt und sein rotes Gesicht wurde ganz blass. »Du hast mich belogen!« Er wedelte mit der Hand ein schwarzes Laubblatt weg, das vor seiner Nase herumtanzte.
Da stützte sich die zweite weiße Pfote auf dem schwarzen Drachen ab, der als Zeichnung reglos auf dem Papier blieb.
Die beiden Vorderpfoten zogen nun den Körper nach, der sich gleichsam aus der vergilbten Buchseite herausdrehte. Als Letztes zog der weiße Drache seinen zierlichen Kopf aus dem Papier und befreite dann mit einem Ruck seine beiden Hinterpfoten. Fast schläfrig öffnete er die Augen und sah sich um. Um seinen Mund spielte ein amüsiertes Lächeln, als er die anwesenden Personen im Zimmer erblickte. »Gut, dass du mich wieder beschwörst, mein liebes Menschenkind«, sagte er freundlich zu Mira. »Ich hoffe, du hast es nie bedauert, dich mit Zauberern und Hexen eingelassen zu haben!« Mira biss sich auf die Lippen und sah von Miranda zu Hippolyt, die beide mit offenen Mündern den Drachen anstarrten. »Nein«, sagte sie nach kurzem Nachdenken, »eigentlich nicht. Wobei sie nicht so viel anders sind als manche Menschen!«
Der Drache nickte und blickte dann von der zerzausten Miranda zu Hippolyt, der mit inzwischen wieder hochrotem Gesicht nach Luft schnappte und versuchte, seine wenigen Haare notdürftig in Ordnung zu bringen. »Und – wie ich sehe, hast du es nun geschafft, ein Begrüßungskomitee auf die Beine zu stellen!«
Die braun gesprenkelten Augen des Drachen funkelten vor Vergnügen.
»Was für eine illustere Runde, meine liebe Mira. Darf ich davon ausgehen, dass mich dieser wohlbeleibte Herr hier gerne sprechen möchte? Cyril de Montignac, es freut mich, Eure Bekanntschaft machen zu dürfen!« Er ließ seinen Nüstern ein paar kleine, rosafarbene Wölkchen entweichen und machte eine galante Verbeugung vor Hippolyt. Der starrte ihn sprachlos vor Überraschung an. »Oh«, der Drache wich zurück und lächelte. »Er will mich vielleicht doch nicht sprechen?« Hippolyt räusperte sich. »Doch, doch natürlich ... es ist mir eine große Ehre.« Er verbeugte sich nun seinerseits, so tief es sein rundlicher Bauch zuließ. »Seid willkommen in meinem Restaurant, dem Blauen Pfau !« Der Drache schickte ein weiteres Wölkchen in die Luft, das diesmal – bevor es zerplatzte – von Rosa zu einem leuchtenden Pink wechselte. Sein Blick blieb auf dem Bild des blauen Pfaus hängen, das vor ihm gegen einen Stuhl gelehnt war und vor dem gerade ein schwarzes Blatt zu Boden trudelte. Die Mundwinkel des Drachen zuckten verräterisch. »Was für ein ... interessantes Tier!«
»Wie gesagt – ein Pfau«, sagte Hippolyt schnell. »Natürlich mein Wunschtier!«, fügte er dann nicht ohne Stolz hinzu. »So, so.« Der weiße Drache lächelte. »Ihr beherrscht also die Kunst der Verwandlung und gehört damit zu den weißen Zauberern?« »Ja, aber ja«, stammelte Hippolyt und Mira konnte Schweißtropfen auf seiner geröteten Stirn erkennen. Der Drache blies ein dickes türkisfarbenes Wölkchen aus seinen Nüstern und beobachtete fröhlich, wie es über Hippolyt zerplatzte.
»Und warum habt Ihr mich in meiner Ruhe gestört?«
»Ich wollte Euch sprechen, denn es gibt keinen Mächtigeren und Klügeren als Euch«, erwiderte Hippolyt gestelzt. Mira wechselte einen Blick mit Miranda, die vielsagend die Augen verdrehte.
»Macht und Klugheit gehen nicht immer Hand in
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