Mira und der weiße Drache (German Edition)
bewunderte sie schweigend, wobei eine zarte silberne Wolke seinen Nüstern entwich.
Schließlich wandte er seinen zierlichen Kopf zu Mira, die sich ihrerseits zu ihm hinunterbeugte. »Vergiss nicht, dass ich ein Geistwesen bin!«, sagte er ganz leise zu ihr. Seine grünen Augen sahen in diesem Moment uralt aus.
Mira schluckte. Was hatte er nur vor?
Jetzt drehte der Drache sich um, sah auf das Buch, klappte sein Maul auf, in dem Mira für einen kurzen Moment scharfe silberne Zähne erblicken konnte, und stieß dann plötzlich Feuer aus seinem Rachen. Eine Flamme umtanzte den schwarzen Drachen auf dem vergilbten Papier und breitete sich auf der Seite aus. Und so wie das Feuer das Papier erfasste, so ergriff es auch den weißen Drachen selbst. Er bäumte sich auf, schlug mit den Flügeln, ähnelte selbst einen Moment lang einer Flamme und lag dann wieder flach und gezeichnet auf dem Papier, das sich unter dem Feuer krümmte.
Die schwarze Hexe zog die weiße Damasttischdecke vom Nebentisch, wobei klirrend das Besteck zu Boden fiel, und schlug dann verzweifelt mit der Decke auf das Feuer ein. »Das kannst du nicht tun. Du kannst mich nicht schon wieder alleinlassen!«, schrie sie voller Verzweiflung. Doch je mehr sie versuchte, das Feuer zu löschen, desto höher schlugen die Flammen. »Es ist Zauberfeuer«, rief Miranda dazwischen, »man kann es nicht löschen!«
Kleine abgerissene Glühfäden kringelten sich auf dem Papier, auf dem man die Zeichnungen noch erkennen konnte. Dann, von dem Feuer ihrer Schwere beraubt, flog die Seite hoch und zerfiel in der Luft zu schwarzen Ascheflocken. Gelbgrüne Flammen verzehrten nun auch die nächste Seite, und Fische und Vögel wurden erst braun, dann schwarz und stiegen schließlich in die Luft. So erging es auch den schwarzen und den weißen Vögeln, einer Ameise, die ein endloses Band entlangkrabbelte, und den Häusern, die ineinandergezeichnet waren. Sie alle brannten, und das Feuer riss nun auch den Rest des Buches mit sich fort. Schiffe, Schachfiguren, Kugeln, Treppen, sie alle flogen von der Hitze getrieben nach oben. »Das werdet ihr mir büßen!«, rief die schwarze Hexe den Kindern zu.
In diesem Moment wurde von draußen die Tür aufgestoßen. Und auf der Schwelle stand die alte Hexe Fa. Sie sah ganz anders aus, als Mira sie das letzte Mal gesehen hatte. Nichts erinnerte mehr an das gebückte Weiblein, das übel riechende Suppen zusammenbraute. Die Hexe Fa stand aufrecht da. Der Sturm bauschte ihre vielen Röcke, und ihre langen, grauen Haare flatterten im Wind. »Gib auf, du hast verloren!«, rief sie der schwarzen Hexe zu. Der Hexe entfuhr ein bitteres Gelächter. »Und du!«, rief sie, »du hast auch verloren.« Sie deutete mit ihrem knochigen Finger auf das brennende Buch. Dann drehte sie sich böse lachend um ihre eigene Achse, bis sie wieder in schwarzes, tanzendes Laub zerfiel. Die Blätter wirbelten mit den Aschestückchen des Buches nach oben, wirbelten immer schneller und flogen dann aus dem Kamin hinaus in den Sturm.
Mira blinzelte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Für einen Moment wusste sie selbst nicht, ob sie weinte, weil ihr der beißende Rauch in die Augen gestiegen war oder weil auch sie den Drachen nie wiedersehen würde.
23. Kapitel
in dem Tante Lisbeth zu einem überraschenden Schluss kommt
Vor nichts hatte Tante Lisbeth so viel Angst, wie davor, verrückt zu werden. Deshalb hasste sie auch nichts mehr als Durcheinander und alles, was die Ordnung der Dinge störte. Nun, was diese Sorge betraf, hatte Tante Lisbeth wirklich einen schlimmen Tag hinter sich. Eigentlich sogar den schlimmsten, den sie sich vorstellen konnte. Denn etwas ganz Merkwürdiges geschah.
Es fing alles damit an, dass sie in der Diele staubsaugte. Staubsaugen war etwas, dass Tante Lisbeth mit großer Leidenschaft betrieb. Sie liebte das gleichmäßige Brummen des kleinen Motors und das erfreuliche Schlurfen, wenn ein größeres Stück eingesogen wurde und gegen das Staubsaugerrohr klackerte. Und vor allem liebte sie den anschließenden perfekten Anblick ihrer blitzsauberen Orientteppiche. Gerade als sie darüber nachdachte, wie froh sie war, heute nicht mit ihrer Großnichte »Mensch ärgere Dich nicht« spielen zu müssen, hörte sie aus dem Dielenspiegel deutlich Miras Stimme, die ihren Namen rief.
Tante Lisbeth ließ vor Schreck das Staubsaugerrohr fallen und schaltete die Maschine aus. »Ist da jemand?«, flüsterte sie und trat ganz nahe an den Dielenspiegel
Weitere Kostenlose Bücher