Mira und der weiße Drache (German Edition)
heran. Natürlich konnte sie außer ihrem verschreckten Gesicht nichts weiter im Spiegel erkennen, und so zweifelte Tante Lisbeth zum ersten Mal an diesem Tag an ihrem Verstand. Hörte sie etwa Stimmen? Voller Schaudern trat sie von der Scheibe zurück und tat dann etwas, was sie schon lange nicht mehr getan hatte. Sie holte das zerknautschte Päckchen mit den Zigaretten aus dem Schrank und rauchte. Sicherheitshalber ging sie dazu aber in ein anderes Zimmer, denn, und dieser Gedanke ließ sie ein weiteres Mal schaudern, sie fühlte sich obendrein noch durch den Spiegel beobachtet.
Aber all das war noch nicht richtig schlimm. Schlimm wurde es erst, als es dunkel wurde und Mira und ihre seltsame Freundin nicht wieder auftauchten. Bei Sonnenuntergang hatte Tante Lisbeth schon das Wasser für die Nudeln aufgesetzt und wartete. Dann war es dunkel geworden, das Wasser sprudelte schon eine Weile und Tante Lisbeth wartete immer noch. Seufzend schaltete sie den Herd aus, zog sie ihren Mantel an (wobei sie es ängstlich vermied, in den Dielenspiegel zu blicken) und ging zur Tischtennisplatte am Ende der Straße. Doch die Kinder waren nicht dort. Nur das Laub tanzte über den kaputten Betontisch.
Der Wind wurde stärker, während Tante Lisbeth in die Stadt ging, um dort nach den Kindern zu suchen. Wenige Leute waren unterwegs und die meisten der vielen kleinen Geschäfte hatten bereits geschlossen. Einer Frau, die gerade Gemüsekisten mit einem kleinen Karren in den Hinterhof schob, war ein Mädchen aufgefallen, das hinter einer roten Katze herlief, aber sonst hatte keiner eine Ahnung, wo sich die Kinder aufhalten könnten. Unverrichteter Dinge ging Tante Lisbeth wieder nach Hause. Sie schaltete die Herdplatte wieder an, weil sie hoffte, wenn das Nudelwasser kochen würde, würde auch Mira zurückkommen. Doch das Wasser kochte und kochte, und die Fensterscheibe in der Küche, durch die Tante Lisbeth voller Hoffnung auf den Gehweg blickte, war schon ganz beschlagen. Und keine Mira tauchte auf. Schließlich, der Abend war bereits fortgeschritten und die Hälfte der Zigaretten aus dem Päckchen geraucht, senkte sie ihren Kopf auf die Tischplatte und fiel in einen unruhigen, von vielen seltsamen Träumen durchsetzten Schlaf. Sie sah Mira aus dem Spiegel heraustreten und in der Luft fliegen. Dann träumte sie von klirrenden Kirchenglocken, bis sie merkte, dass es tatsächlich an der Wohnungstür schellte.
Tante Lisbeth schreckte hoch. Ihr Herz klopfte heftig, als sie die Tür öffnete. Die Windböen waren inzwischen zu einem regelrechten Sturm angewachsen. In den Nachbargärten bogen sich die Bäume und Regen fiel in dicken Tropfen auf die Erde.
Draußen stand eine dicke alte Frau in seltsamer Aufmachung. Ihre langen, grellbunt gemusterten Röcke wehten im Sturmwind. Die Böen zerzausten ihre grauen nassen Haarsträhnen, die von einem geblümten Kopftuch mühevoll zusammengehalten wurden. Ohne viel Umschweife drückte die dicke Frau ihr die Hand, und Tante Lisbeth hatte das Gefühl, ihre Finger wären in einen unerbittlichen ledernen Schraubstock geraten.
»Ich heiße Fa«, sagte die dicke Frau zu ihr und grinste sie mit ihren wenigen Zähnen an. »Und ich bringe Ihnen Mira mit!« »Oh«, sagte Tante Lisbeth, als Mira ziemlich kleinlaut hinter der Hexe Fa hervorlugte. Dann sagte sie nichts mehr, legte stattdessen die Arme um ihre Großnichte und brach in hemmungsloses Schluchzen aus.
Mira war es ein bisschen peinlich, dass Tante Lisbeth sie so lange umarmt hielt. Sie hatte mit allem gerechnet, als sie sich mit der grimmig schweigenden alten Hexe durch den Sturm nach Hause quälte – mit Vorwürfen, Strafandrohungen, damit, dass Tante Lisbeth ihre Mutter angerufen hatte und sie nicht nur bei ihr, sondern auch zu Hause eine saftige Strafe erwartete.
Nie aber hätte sie gedacht, dass Tante Lisbeth sie schluchzend umarmen würde. Mira wurde ein bisschen rot und murmelte eine Entschuldigung, die selbst in ihren eigenen Ohren sehr lahm klang. Peinlich war auch, dass Miranda die ganze Szene beobachten konnte. Aus den Augenwinkeln konnte Mira aber sehen, wie sich Miranda wegdrehte und die Treppe, die aus vielen akkurat nebeneinandergelegten Marmorplatten bestand, genau in Augenschein nahm.
Nach einer – wie es Mira schien – endlos langen Weile ließ Tante Lisbeth ihre Großnichte los und wischte sich mit dem Ärmel ein paar Tränen aus den Augen. Dann räusperte sie sich. »Möchten Sie vielleicht zu einem Kaffee
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