Mira und die verwunschenen Kugeln (German Edition)
überlegen Sie denn schon?«
»Seit dem Frühjahr natürlich. In sechs Wochen muss ich mich entschieden haben. Dann fliegen die Schwalben wieder fort. Du siehst, ich habe nicht allzu viel Zeit.«
»Sechs Wochen?« Mira war verwundert. »Das soll wenig sein?«
Die Brunnenfigur schnaubte verächtlich. »Für dich vielleicht nicht. Du bist ja auch nur ein Mensch! Ich sehe euch, wennihr klein seid, dann hüpft ihr hier herum und spritzt euch mit Wasser voll. Später hockt ihr euch zu mir auf die Stufen, werdet älter und älter, bis ihr zu wichtig oder zu gebrechlich seid, um euch zu mir zu setzen, und irgendwann seid ihr nicht mehr da. Dann kommen eure Kinder und so weiter und so weiter. Nur ich bleibe immer hier stehen. Jahr um Jahr. Jahrzehnt um Jahrzehnt, Jahrhundert um Jahrhundert.«
Neptun verstummte, und Mira fragte sich, ob er wohl trübsinnig geworden war.
»Und wie steht es nun in Ihrer Partie«, fragte sie, um ihn abzulenken.
»Was verstehst du denn schon davon?«, fragte der Meeresgott abschätzig.
»Ich kann auch Schach spielen!«, entgegnete Mira ein wenig verärgert.
»So, so.« Neptun zögerte, aber dann begann er, Mira die bisherige Partie zu schildern. Doch schon nach den ersten zwei Sätzen verlor Mira komplett den Überblick. Neptun hatte die Positionen und Spielzüge aller Figuren im Kopf und ging offenbar wie selbstverständlich davon aus, dass Mira sich das auch alles merken konnte.
»Und, was würdest du jetzt an meiner Stelle machen?«, fragte er lauernd. »Die Situation gestaltet sich überaus schwierig. Immerhin habe ich vorletzten Sommer meine Dame verloren.«
Mira schwirrte der Kopf vor lauter Läufern, Springern, Türmen und Bauernopfern.
»Ich würde eine Rochade empfehlen!«, sagte sie schließlich aufs Geratewohl. »Rochade«, dachte sie, »Rochade klingt gut.«
Neptun schwieg eine Weile. Das Wasser aus dem Maul des Seedrachen, der fast von dem riesigen Fuß Neptuns erdrückt wurde, plätscherte in das Brunnenrund und die zweite Meerjungfrau schwenkte kaum sichtbar ihren Krug und bespritzte damit den Zwerg.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte der Meeresgott schließlich. »Eine interessante Möglichkeit, immerhin!«
Zum ersten Mal seit ihrem Gespräch betrachtete die Brunnenfigur Mira genauer.
»Wie kann es eigentlich sein, dass du uns verstehst, Schachspielerin?«, fragte er.
»Ich kann euch nur verstehen, wenn der Zwerg bei mir ist«, entgegnete Mira.
»Ach ja, der Gipszwerg«, dröhnte Neptun. Wieder bebte der Zwerg, über dessen abgebrochene Zipfelmütze nun ein paar Wassertropfen rannen.
»Es gibt nämlich nur wenige von euch Zauberern, die mit uns Figuren sprechen können«, erklärte die Brunnenfigur. »Die Schwalben gehören dazu. Und die eine große Hexe.«
»Welche große Hexe?«, fragte Mira.
»Sie heißt Arachonda«, tönte die Brunnenfigur. Es gab sie schon, bevor es mich gab. Erstaunlich, nicht?«
Miras Herz begann heftig zu klopfen. Arachonda. Die schwarze Hexe.
»Ich weiß nicht, welcher Zauber sie unsterblich und für immer schön gemacht hat. Aber es muss ein sehr mächtiger Zauber sein«, sinnierte Neptun.
»Haben Sie denn schon mit ihr gesprochen?«, fragte Mira gespannt.
»Oh ja, ich habe sie zum ersten Mal gesehen, als sie ein Kind war. Ich war gerade erst gegossen worden und leuchtete in Bronze. Ich war noch nicht so grün wie jetzt.« Neptun entfuhr ein dröhnender Seufzer.
»Arachonda war ein wildes Kind mit langen schwarzen Haaren. Nicht älter als du jetzt. Sie konnte es nicht fassen, dass sie sich mit mir unterhalten konnte. Sie erzählte mir, dass sie sich auch in ein Tier verwandeln konnte. Nur kannte sie damals noch keine anderen Zauberer. Das machte sie sehr unglücklich. Denn sie war anders als alle, mit denen sie zu tun hatte.«
Mira konnte sich die schwarze Hexe unmöglich als Kind vorstellen. Neugierig hörte sie Neptun weiter zu.
»Und sie liebte ihre Steinfiguren. Die Fische vor allem.«
»Und was ist mit Najade?«, rief der Zwerg aufgeregt dazwischen.
»Hat dieser Zwerg gesprochen?«, fragte Neptun.
»Er fragt nach dem Maskaron über der Kellertür von Arachondas Haus«, vermittelte Mira.
Die drei Nixen kicherten. »Wie schade, dass er nicht rot werden kann«, sagte die eine. Der anderen entfuhr ein gluckerndes Lachen und sie prustete Wasser aus ihrem Mund. Der Zwerg wurde von einem Sprühregen bedeckt und selbst Mira wurde nass.
»Sag ihm, dass ich diesen Maskaron nicht kenne«, erklärte die Brunnenfigur und
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