Mira und die verwunschenen Kugeln (German Edition)
vermutete Mira.
Ein wahrer Sturzbach an Tränen quoll nun aus den Augen des Zwergs.
»Vielleicht kann ja jemand eine neue Figur aus dem Stein hauen«, schlug Mira vorsichtig vor.
Der Zwerg blickte sie entgeistert an. »Eine neue Figur? Wiestellst du dir das vor? Keiner kann mir meine Meerjungfrau ersetzen. Nur weil ich aus Stein bin, glaubst du wohl, mein Herz wäre das auch. Aber nein, es ist glühend, mein Herz, wie geschmolzenes Eisen. Oh, meine Najade! Wo bist du bloß?«
Mira wusste darauf keine Antwort. Sie trat von einem Bein auf das andere und überlegte verzweifelt, wie sie den Zwerg trösten könnte.
»Stell mich auf die Brücke da!«, rief er schließlich aufgebracht. »Ich werde mich hinunterstürzen und in tausend Stücke zersplittern.«
Mira hielt den Zwerg ganz fest. »Du wirst nichts dergleichen tun. Ich habe gesagt, ich bringe dich zu deiner Meerjungfrau, und das werde ich tun!« Sie wunderte sich über sich selbst. Ihre Stimme klang viel entschlossener, als Mira in Wirklichkeit war. »Es wird nur etwas länger dauern«, sagte sie noch.
Der Zwerg hörte auf zu zittern.
»Was ist schon Zeit? Ich kann Jahrhunderte warten«, verkündete er leise. »Aber bitte lass mich erst einmal hier. Nie in meinem Leben war ich glücklicher als neben dieser Mauer.«
»Aber ich weiß nicht, was Frau Fingerhut sagt, wenn du nicht mehr bei ihr bist«, warf Mira nachdenklich ein.
»Bitte bring mich nicht zurück in diesen Garten!«, flehte der Zwerg. »Ich würde den Spott dieser Elfen nicht ertragen. Und sie könnten meine Tränen nicht verstehen!«
Mira dachte an die Elfen, den Löwen und die knollennasigen Tonköpfe. Sie stellte sich ihr Getuschel und Gelächter vor und sah dann auf den Zwerg, der einen jammervollen Anblick bot. Nein, sie konnte ihn nicht wieder mitnehmen.
Also stellte Mira den Zwerg wieder an die Stelle, wo zuvor der Maskaron aus der Mauer geragt hatte. Er fiel dort gar nicht weiter auf. Man hätte denken können, er gehöre seit jeher zudem dunklen Haus. Nur die Tränen perlten aus seinen Augen wie ein kleines Rinnsal. Sie liefen über die Mauer und rannen in den Fluss, der sie – wie so vielen Kummer – einfach mit sich fortnahm.
Es war ein trauriger Heimweg. Sie dachte an den verzweifelten Zwerg und an die verschwundenen Maskarone und daran, dass ihre ganze Suche vergeblich gewesen war.
Nichts, was sie getan hatte, hatte zu einem Ergebnis geführt. Sie hatte versucht, die Kugeln auf eigene Faust zu finden, sich auf die Fährte der blechernen Krähe begeben und dem Zwerg das Versprechen gegeben, ihn zum Maskaron zu führen.
Doch sobald Mira irgendwo aufkreuzte, schien sich alles in Luft aufzulösen. Es war, als ob ein großes Loch sich in der Welt auftat, in das immer mehr Dinge hineinfielen.
Mira ging durch die belebten Straßen langsam zurück zu Tante Lisbeth und fühlte sich mit einem Mal entsetzlich müde.
15. Kapitel
in dem eine Tür verschwindet
Erna Fingerhut hatte recht bald bemerkt, dass in ihrer stattlichen Sammlung von Gartenfiguren der Zwerg fehlte. Es wäre ihr vielleicht gar nicht so schnell aufgefallen, wäre ihr nicht in dem Moment, in dem sie mit der Gießkanne Wasser aus der Regentonne schöpfte, eine kleine bunte Elfe vor die Füße gerutscht. Es war eines jener Exemplare, deren boshaftem Gesichtsausdruck auch durch mehrmaliges Übermalen nicht beizukommen war. Für einen Augenblick dachte Frau Fingerhut, die Elfe hätte sich absichtlich fallen lassen.
Aber das war natürlich Unsinn. Diese Elfen waren aus Gips und damit völlig leblos. Frau Fingerhut schüttelte den Kopf. Mit solchen Gedanken würde man sie bald für genauso wunderlich halten wie ihre Nachbarin, die sich mittlerweile schon mit Amseln unterhielt. (Im letzten Winter, sie hatte es ganz genau gesehen!)
Als sie sich jedenfalls bückte, um die kleine Elfe wieder aufzuheben, fiel ihr Blick auf die klaffende Leere hinter der Regentonne.
Dort, wo vorher der Zwerg gestanden hatte, war nun nur noch eine Wasserpfütze.
Nun beschlich Frau Fingerhut zwar zuweilen ein merkwürdiges Gefühl bei ihren Figuren. Dass sich allerdings der Zwerg von selbst aus dem Staub gemacht haben könnte, erschien ihr sehr unwahrscheinlich.
Und als sie die Elfe, auf deren Gesicht sich jetzt seltsamerweise ein zufriedenes Grinsen breitmachte, wieder zurück auf ihr Blatt drückte, dachte sie an Mira.
War nicht Mira die Letzte gewesen, die sich allein im Garten aufgehalten hatte? Und warum hatte sie sich so eilig von
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