Mirad 02 - Der König im König
halten.«
»Jeder Eurer Untertanen würde gerne sein Leben opfern, um Euren Befehl in die Tat umzusetzen«, erklärte Koichi salbungsvoll.
Der Mazar blickte ihn aus düsterer Miene an. »Wie wäre es, wenn Ihr gleich damit begönnet, General?«
Der alte Recke riss Augen und Mund auf, brachte aber keinen Laut hervor.
Ergil hielt Oramas’ Einladung weniger für einen ernst gemeinten Befehl denn für einen Ausdruck tiefer Verzweiflung. »Ich hätte da einen anderen Vorschlag«, sagte er und als er sich der Aufmerksamkeit aller Umstehenden gewiss sein konnte, fügte er hinzu: »Möglicherweise muss niemand den Fluch herausfordern und wir können die Ginkgonadel trotzdem aus der Kammer bergen.«
»Mir steht der Sinn nicht nach Rätselspielen, König Ergil. Wollt Ihr uns mit Euren Sirilimkünsten beeindrucken oder was habt Ihr vor?«, brummte Oramas.
»Ihr seid der Wahrheit schon auf der Spur, Majestät. Bitte betrachtet meine Worte nicht als Respektlosigkeit, aber es bedarf sehr ausführlicher Erklärungen, um einem Nichtsirilo meine Absichten verständlich zu machen. Wenn Ihr erlaubt, will ich es einfach versuchen. Sollte ich scheitern, können wir immer noch die Tür aufbrechen.«
»Alles, wodurch wir Zeit gewinnen und das Leben meiner Tochter retten können, ist mir willkommen.« Der Mazar trat einen Schritt zurück und deutete zur Tür. »Tut Euch keinen Zwang an.«
Ergil bemerkte Múrias besorgten Blick und lächelte.
»Keine Angst, Inimai, ich werde nicht in den massiven Fels springen.«
Ohne die Umstehenden weiter zu beachten, schloss er die Augen, legte die Handflächen an die Pforte des Gelasses und versenkte sich in den grünen Faltenwurf Mirads. Die Tunnelwände wurden transparent. Im Geiste stieß er durch die steinerne Tür hindurch und dann konnte er die geheimnisvolle neunte Kammer klar und deutlich sehen.
Sie war kreisrund. Ihr Durchmesser betrug etwa vier Schritte, die Höhe ebenso. Im Übrigen entsprach sie nicht gerade den landläufigen Vorstellungen vom Hort eines großen Schatzes. Keine Truhen standen herum, aus denen Perlenketten, goldene Münzen und juwelenbesetzte Kelche quollen. In ihrer Mitte stand ein thronartiger Stuhl mit hoher Rückenlehne und in diesem saß, ein wenig schief, aber gleichwohl aufrecht, ein prächtig gekleidetes Skelett…
Ergil spürte einen kalten Schauer, als ihm bewusst wurde, dass sein Geist die sterblichen Überreste des Hüters der Kammer betrachtete, eines Menschen, der schon vor Jahrtausenden gestorben war und trotzdem noch auf geheimnisvolle Weise seinen Dienst zu verrichten schien. Warum war er nicht längst in seine einzelnen Knochen auseinander gefallen? Ob die Kleidung ihn zusammenhielt? Sie bestand zum großen Teil aus Leder, das zwar rissig, aber augenscheinlich so steif wie ein Trockenfisch war. Im Gegensatz zu den schlichten Stiefeln und Hosen reihten sich auf seinem Wams runde Plättchen aus Gold – möglicherweise handelte es sich um Münzen. Über den Schultern des Wächters lag ein Umhang aus einem feinen, schwach schimmernden Gewebe, an dem der Zahn der Zeit rätselhafterweise nicht genagt hatte. Am Boden lag ein Helm.
Das Gesicht des Toten war von der Pforte abgewandt, als wolle er den einzigen Weg zurück ins Leben mit Verachtung strafen. Der Kammer Pforte ist der Tod. Ihm muss sich jeder stellen, ob er sie schließen oder öffnen mag.
Die Worte des Fluches ließen Ergil abermals erzittern. Bedeutete das, was er hier gerade tat, schon ein Öffnen? Er schob die bangen Gedanken zur Seite und wandte sich der vordringlichen Frage zu.
Wo war die Ginkgonadel?
Gründlich durchforschte er die ganze Kammer. Den beklemmenden Anblick des toten Hüters mied er dabei so gut es ging. Umso gewissenhafter ließ er seine unsichtbaren Fühler über den Boden wandern, die Wände erklimmen, die Decke abtasten, jede noch so kleine Spalte absuchen, aber nirgends gab es die geringste Spur von dem beschriebenen Gegenstand. Ein Seufzer entrang sich ihm.
»Gibt es Schwierigkeiten?«, hörte er Múrias leise Stimme.
Ohne die Augen zu öffnen, schilderte er seine Eindrücke.
»Wie sieht der Hüter aus?«, fragte die Geschichtsschreiberin.
Ergil schluckte und warf von der Seite einen Blick zu dem Toten. »Er sitzt aufrecht. Die Knochenhände sind auf die Oberschenkel gestützt. Sein Kopf ist zur Seite gesunken.«
»Was für Kleider trägt er?«
Auch davon lieferte Ergil einen genauen Bericht.
»So, wie du den Umhang beschreibst, könnte er aus Sirilimseide
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