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Mirad 02 - Der König im König

Titel: Mirad 02 - Der König im König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Gesicht war vor Anstrengung verzerrt wie bei jemandem, der an einen nur beinahe erreichbaren Gegenstand trotzdem heranzukommen versucht. Mit einem Mal wurde aus seinem Antlitz eine Maske des Schmerzes und er sog zwischen den Zähnen die Luft ein.
    »Was ist passiert?«, fragte Múria besorgt.
    »Ich habe sie«, antwortete Ergil. »Die Nadel ist kälter als Eis.« Rasch zog er den Arm aus der Wand und reckte Tiko die offene Handfläche entgegen, auf der die Ginkgonadel lag. »Hier! Schnell! Nehmt sie mir ab«, drängte er den Waffenschmied. Der aber zögerte.
    »Ich kann sie nicht mehr lange halten«, keuchte Ergil. Die Kälte war unerträglich.
    »Zieh deinen Geist von ihr zurück«, riet ihm Múria.
    Erst durch ihre Worte wurde ihm bewusst, dass er die Ginkgonadel, obwohl er die Augen geöffnet hatte, weiterhin mit den Sirilimsinnen betrachtete. Als er seine unsichtbaren Fühler einzog, wurde aus dem kalten Schmerz schlagartig ein zwar immer noch unangenehmes, aber wenigstens erträgliches Ziehen, ungefähr so, als stecke die Nadel zwar in seiner Hand, quäle ihn aber nur, wenn er diese bewegte. Er atmete erleichtert auf.
    An Tiko gewandt, sagte er: »Sie gehört Euch. Bitte nehmt sie.«
    Der Schmied zögerte noch immer.
    »Sie ist bei Euch besser aufgehoben als bei mir und ich bin überzeugt, sie wird Euch keinen Schaden zufügen«, erklärte Ergil geduldig.
    Endlich wagte Tiko die Ginkgonadel aus der Hand des soodländischen Königs zu nehmen. Als traue man dem Schmied eher zu, den schwarzen Kristall, den Fluch der neunten Kammer und alle sonstigen Unwägbarkeiten zu bändigen, umringten ihn der Mazar, der General und dessen Adjutant. Die Übrigen musterten den geheimnisvollen Gegenstand aus der zweiten Reihe.
    Die Ginkgonadel war knapp eine Spanne lang und etwa so stark wie ein dünner Eispickel. Ihren Namen verdankte sie dem kunstvollen Endstück, einem in der Mitte gespaltenen Blatt. Dessen Ränder waren so ungleichmäßig geformt wie eine sanft geschwungene Küstenlinie. Am Stängel entsprangen haarfeine Längsrippen, die sich fächerförmig über das Blatt ausbreiteten.
    Einen Moment lang leuchtete in Ergils Sinn wieder der Gedanke vom gespiegelten Herzen auf, der ihm bei der Durchdringung der neunten Kammer gekommen war. Es ist auch ein gespaltenes Herz, fügte er im Geist hinzu, während er den tiefen Schlitz im Ginkgoblatt betrachtete. Konnte der legendäre Waffenschmied Tarin vor Jahrtausenden schon gewusst haben, dass einmal ein Sirilimzwilling kommen würde, um seinem Meisterstück eine Bestimmung zu geben?
    Ergil schüttelte die unfassbare Vorstellung ab und beschränkte sich stattdessen auf das Bestaunen des glitzernden Blattes. Kaum zu glauben, dass es aus demselben Kristall erschaffen worden war wie das Schwert Schmerz. Die anderen im Gang empfanden offenbar ähnlich wie er.
    »Das Blatt wirkt so echt. Wäre es nicht schwarz, könnte man denken, jemand hätte es gerade frisch gepflückt«, bewunderte Dormund das so zerbrechlich anmutende Gebilde.
    Von allen Anwesenden konnten er und Tiko wohl am ehesten einschätzen, welche meisterliche Fertigkeit erforderlich gewesen war, um aus dem spröden Material ein solches Kunstwerk zu erschaffen.
    »Wenn stimmt, was mein Vater mich gelehrt hat, dann kann es sein Aussehen verändern. Gebt Acht!«, sagte Kubukus Sohn. Er nahm die Nadel beim Schaft, hielt sie gegen das Licht von Masakes Fackel und drehte sie langsam zwischen den Fingern. Beiläufig bemerkte Ergil ein winziges Loch an der Stelle, wo Blatt und Stiel zusammentrafen, und fragte sich, ob dies ein Makel war oder irgendeinen Zweck erfüllte. Aber dann leuchtete das Feuer genau von hinten durch das hauchfeine Blatt und es erstrahlte in lebhaftem Grün.
    »Unglaublich!«, flüsterte er verblüfft. Jeder Gedanke an Unvollkommenheit war wie weggeblasen. »Beim Schwert ist mir das nie aufgefallen.«
    »Als Tarin diese Nadel schmiedete, benutzte er Kupfer und einige andere Zutaten, über die ich nicht sprechen darf. Dadurch hat der Kristall diese Färbung bekommen.«
    »Ich habe noch nie so ein Blatt in der Natur gesehen, weder im Großen Alten noch sonst irgendwo.«
    »Das ist kaum verwunderlich«, meldete sich Oramas zu Wort. »Es gibt nur noch einen einzigen Goldfruchtbaum, wie das alte Wort ›Ginkgo‹ richtigerweise übersetzt wird. Er steht nicht weit von hier, in der Mitte meines Gartens, und er ist älter als diese Schatzkammer.« Der Mazar deutete mit ausgebreiteten Händen zur Tunneldecke.

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