Mirad 02 - Der König im König
»Leider trägt er schon lange keine Früchte mehr. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Goldfruchtbäume für immer vom Angesicht Mirads verschwunden sein werden. In Susan glauben die Menschen, wenn das geschieht, werde unsere Welt untergehen.«
»Vielleicht ist er nur krank und kann geheilt werden«, sagte Ergil.
Der Mazar lächelte schwach. »Es war wohl tatsächlich eine Krankheit, die einst unsere Ginkgos eingehen ließ, obgleich Kabakana, mein Urahn, an eine Verschwörung glaubte. Tatsächlich regte sich im Volk Unmut gegen ihn, weil es im Sterben der Ginkgos einen Fluch vermutete. In Susan gilt der Goldfruchtbaum seit jeher als heilig. Er symbolisiert Weisheit und Langlebigkeit, die beiden Eigenschaften, auf denen unsere Dynastie gegründet ist. Kabakana ließ alle Ginkgopriester hinrichten und er fühlte sich bestätigt, als der letzte Baum im Palastgarten überlebte. Aber er trug keine Frucht mehr. Nun war mit den ›Weisen des Ginkgo‹ auch der Großteil ihres nur mündlich überlieferten Wissens verloren gegangen. Seit Generationen bemühen sich die größten Gelehrten des Herzlandes den Baum zu heilen. Der legendäre Harkon Hakennase begab sich zu diesem Zweck sogar auf eine Forschungsreise, von der er nie zurückkehrte. Bis heute sind alle Versuche, neue Ginkgos zu züchten, gescheitert. Unser Baum oben im Park war einst der Anlass, den Alten Palast genau hier zu errichten. Wenn er stirbt, so glauben nicht wenige, wird auch Susan untergehen.«
Oramas hielt den Phiolenanhänger an der Halskette eine Handbreit von seiner Brust weg, sodass er hin- und herschaukelte. Um keinen Tropfen der darin eingeschlossenen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit entweichen zu lassen, war der kristallene Stöpsel mit rotem Wachs versiegelt. »Mir ist aufgefallen«, sagte der Mazar im Plauderton, »dass Ihr Euch sehr für dieses Kristallfläschchen hier interessiert, König Ergil. Ihr werdet den Wert des Ginkgo für mein Volk besser ermessen können, wenn ich Euch über den Inhalt des Gefäßes aufkläre. Wir bezeichnen diese ölige Tinktur als ›Wasser von Silmao‹. Es besitzt eine unvergleichliche Heilkraft. Der Überlieferung nach kann es sogar jemanden, der gerade gestorben ist, wieder ins Leben zurückholen. Ratet, woraus der Hauptbestandteil dieses Elixiers gewonnen wurde!«
»Aus Ginkgo?«
Der Mazar nickte. »Genauer gesagt aus den letzten Früchten des letzten Baumes seiner Art. Wie er, so ist auch das Elixier ein Vermächtnis der Sirilim. Ihnen diente es lediglich zur Behandlung von Wunden. Bei Menschen hatte es oft unangenehme Nebenwirkungen. Um es für unsereiner verträglicher zu machen, versuchten susanische Gelehrte die Rezeptur zu verbessern. Dabei stießen sie auf seine an Wunder grenzende Wirkung. Leider kennt heute niemand mehr die Zutaten, die dem Wasser von Silmao seine Leben spendende Kraft verleihen.«
»Dann muss der Inhalt Eurer Phiole überaus kostbar sein, Majestät.«
»Fürwahr, das ist er! Mein besorgter Mujo besteht darauf, dass ich das Kleinod immer bei mir trage. Das haben allerdings schon mein Vater und mein Großvater und auch dessen Vater davor getan. Als es ans Sterben ging, hielten sie das Lebenselixier für zu kostbar, um es für sich zu vergeuden, und sie gaben es ihrem ältesten Sohn weiter. Ein herrliches Beispiel für die susanische Tugend der Selbstverleugnung, meint Ihr nicht auch?«
Ergil fand so viel Entsagung eher beängstigend als wundervoll. Ob er in der Stunde des Todes so viel Opferbereitschaft aufbringen würde, erschien ihm zweifelhaft. Ausweichend antwortete er: »Sich selbstlos für die Schwächeren einzusetzen gilt auch in Soodland als ritterliche Pflicht. Ob Tarin die Ginkgonadel einem Blatt Eures uralten Baumes nachempfunden hat?«
Das Ablenkungsmanöver funktionierte. Oramas betrachtete kurz das kristallene Kunstwerk und nickte. »Ihr habt Recht. Vom Studium alter Zeichnungen weiß ich, dass unser Baum besonders tief gespaltene Blätter hat – genauso wie bei diesem kleinen Kunstwerk hier. Tarin war mit Lin-Gan, dem Gründer unserer Dynastie, befreundet. Ohne Frage hat er auch den Ginkgobaum im Palastgarten gekannt, den der Überlieferung nach einst die Sirilim nach ihrer Ankunft im Herzland gepflanzt haben. Und nun kann durch die Nadel Prinzessin Nishigo gerettet werden. Wenn das kein gutes Omen ist!«
»Omen?« Ergil musterte den Fund mit weniger herzlichen Empfindungen, weil er ihn in erster Linie an das Schwert Schmerz erinnerte. »Der
Weitere Kostenlose Bücher