Mirad 02 - Der König im König
nicht enden wollenden Alptraum geworden. Und dann glitt auch noch eine Hand von der Sprosse ab. Sie fiel schlaff nach unten und schlug dabei gegen etwas Hartes. Ergil blickte nach unten und sah das silberne Heft des gläsernen Schwertes.
Plötzlich wusste er, was zu tun war. Er löste die Gürtelschlaufe, ließ den Blütengriff aufklappen und der durchsichtige Gürtel verwandelte sich in eine grün strahlende Klinge.
Ergils Linke griff nach einer tiefer liegenden Sprosse, er beugte sich herab, holte weit aus und durchtrennte mit einem kraftvollen Hieb unter sich die Leiter.
Einen Moment lang wagte er nicht zu atmen. Was kam als Nächstes? Würde er aus dem Himmel fallen und Stunden später am Boden zerschellen? Er richtete sich auf der soundsovielten Sprosse auf, die mit einem Mal zu seiner ersten geworden war, und blickte nach oben. Über ihm lichtete sich der Nebel. Hindurch strahlte ein gelbes Licht. Neue Kraft strömte in seine Glieder und er kletterte rasch weiter.
Unversehens schritt er über eine frühlingshaft warme Hochebene. Die Leiter war verschwunden. Er wusste nicht einmal, wann er die letzte Sprosse überwunden hatte. Seine Füße schlurften genussvoll durch grünes Gras, in dem Millionen von Tautropfen in der Sonne funkelten. Auf der Wiese blühten bunte Blumen, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Sie verströmten einen Duft, der ihn vor Glück trunken machte. Auch bemerkte er jetzt Bäume, die in voller Blüte standen, zugleich aber fremdartige, verlockend aussehende Früchte trugen. Die Luft war vom Gezwitscher der Vögel erfüllt. Insekten summten. Aus der Ferne scholl das Lachen fröhlicher Menschen herüber. Einige sangen Lieder.
Direkt neben ihm flüsterte eine Stimme: »Was soll ich denn noch tun, um dich wachzukriegen?«
Ergil fuhr mit dem Oberkörper hoch. Irgendwo schnarchte jemand. Um ihn herum war es stockfinster. Aber er spürte die warme Nähe einer Person. Seine Hand tastete nach Zijjajim, das neben ihm unter der Decke lag.
»Na endlich!«, hauchte ihm jemand ins Ohr.
»Popi?«, gab er genauso leise zurück.
»Ich muss dich unbedingt sprechen. Komm mit raus.«
Er schlang sich den »gläsernen Gürtel« um den Leib und schlich hinter dem Knappen hinaus in die Klamm. Draußen wandte sich Popi sofort nach rechts, also bergwärts. Nach etwa dreißig Schritten blieb er stehen.
»Bist du Ergil?«
»Ja«, flüsterte der.
»Ich muss dir etwas sagen.«
»Mach’s nicht so spannend, Popi.«
»Vor einer Weile gesellte sich die Herrin Múria zu uns.«
»Du meinst zu Falgon und dir?«
»Ja. Die Herrin sagte, sie könne nicht schlafen. Sie befahl mir, sie mit ihrem Verlobten allein zu lassen. Erst dachte ich, die zwei wollten nur ein bisschen turteln. Aber dann hörte ich sie miteinander streiten.«
»Du hast Falgon und Múria belauscht?«, fragte Ergil überrascht.
»Ganz bestimmt nicht«, beteuerte der Knappe. »Die Unterhaltung der beiden ist wohl nur lauter geworden, als die Herrin erwartet hatte. Er sagte etwas wie: ›Kommt überhaupt nicht infrage.‹ Worauf sie sagte: ›Ich kann nicht zulassen, dass den Jungen etwas zustößt. Sie sind mir wie Söhne geworden. Außerdem liegt auf ihnen nicht nur die Hoffnung Soodlands, sondern die von ganz Mirad. Deshalb werde ich im Morgengrauen ohne sie zum Gipfel aufbrechen. Ehe ihnen meine Abwesenheit auffällt, werde ich längst einen uneinholbaren Vorsprung haben.‹«
»Was?«, japste Ergil.
Popi drückte ihm schnell die Hand auf den Mund. »Still. Sie könnten uns hören.«
»Hecken die beiden immer noch ihre Verschwörung aus?«, fragte Ergil, als er wieder flüstern konnte.
»Ich würde eher sagen, Herr Falgon versucht der Herrin Múria ihren Plan auszureden, aber du kennst sie ja.«
Ergil nickte. »Allerdings. Sie wird gegen Magos losziehen, auch wenn das ihren sicheren Tod bedeutet. Bestenfalls geht Falgon mit, aber ich fürchte, dadurch werden nur beide ins Verderben stürzen.«
Er schüttelte den Kopf und musste an den Traum denken. Es war nicht der erste, in dem er eine Leiter gesehen hatte. Sie sei ein Bild, das ihm etwas über ihn selbst verrate, hatte Schekira ihm einmal erklärt. Du spürst eine Veränderung auf dich zukommen. Mit dem Verlassen der Sooderburg habe er nur die erste Sprosse bestiegen. Der Traum bedeutet, Schmerz wird dich verändern. Du wirst von diesem Ritt nicht als derselbe zurückkehren, als der du aufgebrochen…
Popis zitterndes Wispern riss Ergil aus der Versunkenheit. »Bist du mir
Weitere Kostenlose Bücher