Mirad 02 - Der König im König
vorstellte. Bestimmt dürstete ihn nach schneller Rache.
Am liebsten hätte Ergil den Abstieg ins Tal schon nach der überraschenden Entdeckung seiner neuen Fähigkeiten begonnen, aber er wusste die Wirkung des Lebenselixiers nicht einzuschätzen. Sicher, es war ein Wunder, wie stark er sich nach dem Genuss des bernsteinfarbenen Saftes fühlte, aber konnte man dieser neuen Spritzigkeit trauen? Twikus hatte sich vom trügerischen Gefühl der Stärke in den Tod locken lassen.
Sobald Ergil auch nur den Namen seines Bruders in Gedanken aussprach, verkrampfte sich sein Herz. Es erschien ihm viel zu groß für ihn allein. Er war zum Einsiedler geworden in einem verlassenen Haus und lauschte nach Stimmen, die nie mehr darin zurückkehren würden. Bis zum Morgengrauen.
Mit dem ersten Licht des neuen Tages brachen die Gefährten auf. Über ihren Häuptern qualmte und grollte der Vulkan. Popi übernahm die Führung – er besaß die nützliche Eigenschaft, einen einmal gegangenen Weg so schnell nicht wieder zu vergessen. Gedankenverloren stapfte Ergil ihm hinterher.
Wer ist dieser verbliebene König im König?, grübelte er. Noch traute er seinem eigenen Wesen nicht.
Hast du mich gerufen, mein lieber Freund?, meldete sich auffallend behutsam Nisrahs Stimme. Die zwei hatten schon in der vergangenen Nacht lange über den erlittenen Verlust gesprochen.
Ich habe nur über mein neues Wesen nachgedacht, antwortete Ergil.
Neu?
Ich fühlte eine Entschlusskraft, die mir, ehrlich gesagt, nicht geheuer ist. Den Drang, das Ende des dunklen Gottes für Soodland und ganz Mirad zu einem neuen Anfang zu machen. War da etwa noch mehr von Twikus auf ihn übergegangen?, fragte er sich insgeheim. Hatte sich der Charakter des Draufgängers mit dem des Denkers verschmolzen?
Dein Bruder hätte dir jetzt bestimmt geraten, den Bogen nicht zu überspannen, indem du dem Guten in dir misstraust. Vielleicht hat er dir mehr hinterlassen, als du für möglich hältst. Nimm dein Erbe an und nutze es für dich und für unsere Welt.
Auf dem Weg ins Tal grübelte Ergil lange über die Worte des Netzlings nach und je gründlicher er sich dabei selbst auslotete, desto richtiger erschienen sie ihm. Diese Forschungsreise in sein Inneres nahm ihn so gefangen, dass er zunächst die Kälte kaum bemerkte, obwohl der schneidende Wind im Laufe des Abstiegs immer schärfer wehte. Ergil wurde sich ihrer erst bewusst, als er plötzlich vor der Gletscherspalte stand. Während er die Haken seines Mantels schloss, stieß seine Hand gegen das leere Fläschchen. Die Berührung löste eine befremdende Gedankenkette aus, die zusammengefasst so lautete: Phiole, Oramas III, Nishigo, Sehnsucht.
Ergil fröstelte. Was war das jetzt? Sicher, er mochte die susanische Prinzessin. Sie hatte auch ihn entzückt, wie das wohl bei jedem jungen Mann der Fall sein dürfte. Ihr bestrickendes Wesen war ihm sogar bis in die Träume gefolgt. Aber nur Twikus hatte sich tatsächlich in Nishi verliebt…
»Jetzt nenne ich sie schon bei ihrem Kosenamen«, brummelte er verwirrt.
Popi drehte sich zu ihm um. »Alles in Ordnung?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Sollen wir eine Rast einlegen?«
»Gute Idee! Gestern habe ich da unten eine Eishöhle gesehen. Dort können wir unterkriechen, bis der Sturm vorüber ist.«
»Klingt vernünftig.«
Bald hatten sie die Stelle erreicht, die ihnen den Abstieg zum Grund der Spalte ermöglichte. Während sie nach unten kletterten, wurde aus den eisigen Böen ein handfester Sturm. Trotz der zunehmenden Gefahr, auszugleiten und in die Tiefe zu stürzen, konnte sich Ergil nur schwer auf die Tritte und Haltepunkte konzentrieren. Die Kletterei hatte in ihm eine andere Assoziation heraufbeschworen. Er musste an die Leiter aus seinem Traum denken. Nur indem er sie unter sich durchtrennte, konnte er ihr oberes Ende erreichen. Waren auch diese Bilder eine Vision gewesen, die ihm verhieß, dass er sein früheres Leben würde hinter sich lassen müssen, um verändert in das neue einzutreten? Alles deutete darauf hin.
Wohlbehalten erreichten die Gefährten den Grund der Spalte. Hier tobte der Schneesturm weniger heftig. Trotzdem wurde die Sicht immer schlechter. Umso erstaunlicher war, dass Popi unvermittelt vor einer kleinen Unebenheit stehen blieb, die sich am Boden kaum wahrnehmbar unter der weißen Decke abhob. Er bückte sich und förderte aus den wirbelnden Flocken zwei rötliche Gegenstände zutage: das Gluttöpfchen sowie das Gefäß, in dem sich Múrias
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