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Mirad 02 - Der König im König

Titel: Mirad 02 - Der König im König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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unzählige feine Streifen zu erkennen. Er lenkte sein Krodibo neben Dormund und deutete talwärts.
    »Siehst du die haarfeinen Linien da vorn? Woher kommt das?«, fragte er den Schmied.
    »Es sind Spalten. Sie wirken nur von weitem so dünn. Aus der Nähe betrachtet sind sie zu breit, um hinüberzuspringen, aber auch zu tief und steil, um hinabzuklettern. Vermutlich hat der Schnee einige von ihnen zugedeckt. Hübsche Fallgruben, würde ich meinen.«
    Twikus blickte den Schmied verwundert an. »Das scheint dich ja nicht sonderlich zu beunruhigen.«
    »Nein.« Dormund deutete zu den zwei Hügelkämmen zur Rechten und zur Linken. »Wir müssen uns immer schön dazwischen halten. Wenn wir dieser Senke folgen, sind wir ziemlich sicher.«
    »Nur ziemlich?«
    Der Schmied zögerte. »Naja, am Ende dieses Beckens gibt es einen Wald, den man besser meidet. Aber ihn zu umgehen würde uns Tage kosten und ließe Kaguans Vorsprung wieder wachsen.«
    Der König konnte das Unbehagen seines Freundes spüren, es aber nicht nachvollziehen. »Ein Wald? Das ist doch wunderbar!«
    »Der Zungenwald ist nicht wie der Große Alte, Twikus.«
    »Zungenwald?«
    »Ja. Manche der Einheimischen sprechen auch vom ›Gelbsee‹. Den Grund dafür wirst du bald selbst herausfinden. Es hängt mit den Blättern der Bäume zusammen. Sie sind nicht grün, sondern gelb und gleichen langen, fleischigen Zungen, die sich ständig bewegen. Statt Rinde haben die Stämme ein Fell. Manche sind tiefbraun, andere nachtschwarz. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, man ist froh, wenn dieser Wald hinter einem liegt. Zum Glück lässt er sich an einem Tag durchqueren und genau das tun die meisten Reisegesellschaften: Sie lagern in einer Karawanserei am Eingang des Waldes und brechen morgens sehr früh auf, damit sie bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder aus dem unheimlichen Gehölz heraus sind.«
    Twikus zuckte die Achseln. »Also für mich klingt das zwar ungewöhnlich, aber nicht bedrohlich. Ergil wird wahrscheinlich sogar begeistert sein.«
    Der Schmied verzog keine Miene. »Wart’s ab. Ich kann nicht in Worte fassen, was ich damals bei der Durchquerung des Zungenwaldes empfunden habe, aber so viel steht fest: Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, nachdem er endlich hinter mir lag.«
    Etwa eine Stunde später tauchte unterhalb der Reiter ein leuchtend gelber Fleck auf, der sich in die Mulde zwischen den beiden in West-Ost-Richtung verlaufenden Hügelketten schmiegte. Wäre er blau oder grün gewesen, hätte man ihn tatsächlich für einen See halten können. Seine Form glich einer langen Gurke. Die Illusion bewegter Wellen verstärkte sich noch, je näher die Gruppe dem Zungenwald kam. Wie ein echter See unter launischen Winden kräuselte sich die gelbe Oberfläche immerfort und aus dem Blätterdach stiegen unablässig Nebelschwaden hoch, die von heftigen Böen sofort wieder zerrissen und fortgeweht wurden.
    Bald tauchte rechter Hand hinter einem vorspringenden Abhang eine Ansammlung von grauen Gebäuden auf: die von Dormund erwähnte Unterkunft für Karawanen. Aus der Entfernung wirkte sie verlassen. Nicht das geringste Anzeichen von Leben war auszumachen. Ganz im Gegensatz zum Zungenwald, der wie ein lärmendes Kind die Aufmerksamkeit des Königs von der Herberge weg auf sich zog. Gerade wurden in dem gelben Gewoge die Umrisse der ersten Bäume erkennbar.
    Falgon brachte sein Krodibo zum Stehen und starrte mürrisch zu dem Gehölz hinüber. »Das gefällt mir nicht.«
    Auch die anderen Reiter zügelten ihre Tiere.
    »Kannst du es auch hören, Kira?«, flüsterte Twikus.
    »Du meinst das Rauschen?«, erwiderte die Elvin. Sie hatte sich an diesem Tag für die Gestalt eines braunen Falken mit getupfter Brust entschieden und hockte im Krodibogeweih.
    »Für mich klingt es eher wie das Zwitschern und Flattern einer Myriade von Vögeln.«
    Múria stimmte den beiden zu. Was diese so unterschiedlich beschrieben hatten, war auch ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen, wenngleich ihre Sinne ihr nur einen schwachen Eindruck davon vermittelten. »Vermutlich hat der Wald seine Wurzeln tiefer in die Falten der Welt eingegraben, als das gewöhnliche Bäume tun. Deshalb kann Twikus wahrnehmen, wovon wir nur ein fernes Echo erhaschen.«
    »Also ich höre überhaupt nichts«, sagte Popi.
    »Das wird sich ändern«, brummte Dormunds tiefer Bass. Er deutete nach rechts. »Da drüben ist die Karawanserei. Hinter ihren Mauern finden wir Schutz vor dem Wind und ein warmes

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