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Mirad 02 - Der König im König

Titel: Mirad 02 - Der König im König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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eingenistet«, erwiderte Dormund.
    »Und sämtliche Türen offen stehen lassen?«
    Twikus senkte den Bogen. »Sie könnten vor etwas geflohen sein.«
    »Vor dem Zoforoth, meinst du?«, fragte der Waffenmeister.
    »Wäre doch möglich, oder?«
    Falgon ließ seinen Blick durch den verlassenen Speisesaal schweifen. »Ja. Aber der Gedanke behagt mir nicht. Vor zwei Tagen der Tarpun und jetzt das hier – wir dürfen Kaguan auf keinen Fall unterschätzen. Er ist alles andere als ein verfolgtes, in die Enge getriebenes Wild. Manchmal frage ich mich, wer bei dieser Hatz tatsächlich der Jäger ist.«
    Sie hatten sämtliche Räume durchsucht und weder lebende noch tote Bewohner gefunden. Für Ergil war die Gewissheit, in der weitläufigen Anlage allein zu sein, trotzdem kein wirklich beruhigender Gedanke. Während er sich im weichen Bett eines noblen Gästezimmers hin und her warf, quälten ihn Besorgnis erregende Fragen. Was hatte die Menschen in der Karawanserei dazu bewogen, die unwirtliche Natur dem Schutz der Mauern vorzuziehen? Gab es etwa eine unsichtbare Bedrohung, die immer noch da war?
    Ein Geräusch ließ ihn hochschrecken. Er lauschte mit angehaltenem Atem – und entspannte sich wieder. Der Wind spielte nur mit seinem Fensterladen, ließ ihn polternd hin- und herschlagen. Abgesehen davon war alles still. Erschöpft ließ Ergil sich zurück in die Kissen sinken.
    Bald würde er sowieso aufstehen müssen. Falgon hatte Wachen eingeteilt, um unliebsame Überraschungen auszuschließen. Ergil richtete sich wieder auf, schwang die Beine aus dem Bett und lief zu dem Stuhl, auf dem seine Kleider lagen. Er legte sich den Umhang über die Schultern, in dem Nisrah schlief. Dünne Netzfäden krochen an seinem Nacken empor. Ergil spürte ein leichtes Ziehen.
    Ist es schon Zeit aufzustehen?, begrüßte ihn der Weberknecht verwundert.
    Ich kann nicht schlafen.
    Dich bedrückt etwas, nicht wahr?
    Hörst du den Gesang des Zungenwaldes? Ihm fiel kein besseres Bild ein, um seine Wahrnehmung zu beschreiben. Das ferne Gezwitscher und Geraschel drang sogar durch die dicken Wände des Hauses.
    Was du hörst, das höre ich auch. Und was du siehst, das kann auch mir nicht entgehen.
    Der Gedanke, in dieses Singen einzudringen, behagt mir nicht, Nisrah.
    Sei unbesorgt, lieber Gespinstling. Nisrah wird über dich wachen.
    Ergil musste unwillkürlich lächeln. Die Zweckgemeinschaft mit dem Netzling war eher unauffälliger Natur: Er gab Nisrah Wärme und Lebenskraft und erhielt dafür die geschärften Sinne eines Sirilo. Manchmal sprachen die zwei Gespinstlinge am Tag nur wenige Sätze miteinander. Der junge König seufzte.
    Du bist ein wahrer Freund, Nisrah. Komm, lass uns Dormund ablösen, damit wenigstens er etwas Ruhe findet.
    Als der Morgen nahte, fühlte Ergil sich wie gerädert. Dormund, der erschreckend frisch wirkte, drängte zum baldigen Abmarsch. Und so verließen die Gefährten im ersten Licht des Tages die verwaiste Karawanserei. Twikus hatte keinen besonderen Wert auf eine Übernahme des gemeinsamen Körpers gelegt. Im Gegensatz zum Zwillingsbruder war sein Forscherdrang eher verhalten. Lakonisch erklärte er: Der »Gelbsee« ist nur ein übermütiges Gehölz. Ich bin ganz froh, wenn ich mir den Lärm ersparen kann.
    Sein Ruhebedürfnis war für Ergil durchaus nachvollziehbar. Je weiter er sich auf Schneewolkes Rücken den pelzigen Bäumen näherte, desto lauter wurde das Gezwitscher des Zungenwaldes. Abgesehen von Múria und Schekira, die lediglich ein Zunehmen des schon tags zuvor bemerkten Rauschens feststellten, hörten die übrigen Gefährten so gut wie gar nichts. Noch ehe sie unter das Dach der Bäume ritten, schlug deren Anblick Ergil in den Bann.
    Das seidig schimmernde Fell der dicken Stämme ließ sie eher wie Beine riesiger Tiere anmuten. Noch merkwürdiger als diese Behaarung waren allerdings die peitschenartigen, flachen gelben Blätter der siebzig bis neunzig Fuß hohen Zungenbäume. Sie waren fleischig, etwa so dick wie ein Finger und breit wie zwei oder drei. Manche jungen Sprosse stießen gerade aus einem Zweig hervor, die Länge anderer entsprach ungefähr jener von Falgons Jagdspeer. Sämtliche Blätter wurden von einer Längsrinne in zwei Hälften geteilt. In großer Zahl wuchsen sie wie nackte Rattenschwänze aus dem Pelz der Äste hervor und bewegten sich wie Tang im Wellengang des Meeres. Ihre Oberfläche glänzte feucht und ständig quoll Dampf aus ihnen heraus, der Wald glich einer riesigen

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