Mirage: Roman (German Edition)
Krankenhausbett aus mit Faruk gesprochen hatte, war Mustafa verlegen gewesen, aber richtige Scham empfand er erst, als er seinen Vater im Wartezimmer des Krankenhauses sah. Als Abu Mustafa ihn umarmte und auf beide Wangen küsste, stiegen Mustafa die Tränen in die Augen, und er entschuldigte sich zerknirscht dafür, dass er sein Leben so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte. Natürlich verzieh ihm sein Vater; aber Mustafa wusste, dass Abu Mustafa ihm die Sache, wenn er ihn das nächste Mal ermahnte, vorsichtig zu sein, unter die Nase reiben würde. Und so war es durchaus auch Eigennutz, wenn er sich vornahm, künftig weniger leichtsinnig zu sein.
Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er diesen guten Vorsatz fasste.
Mustafa blieb am nächsten Tag zu Hause, um sich auszuruhen, aber er bat Samir und Amal, vorbeizuschauen und ihn auf den neusten Stand der Ermittlungen zu bringen.
Amal war zum ersten Mal in der Wohnung, und so zog es sie wie viele andere vor ihr zu den Bücherregalen, die jeden freien Zentimeter Wand bedeckten. Während Samir in die Küche ging, um Abu Mustafa beim Teemachen zu helfen, und Mustafa sich auf dem Sofa entspannte, schritt Amal die Regale ab.
»Wie viele Sprachen kann dein Vater denn?«, fragte sie.
»Ein halbes Dutzend gut, und ein weiteres halbes Dutzend gut genug, um sich durchschlagen zu können. Was eindrucksvoll klingt – für jeden, der meine Mutter nicht kannte.«
»Was war sie, Übersetzerin?«
»Rastlos«, sagte Mustafa. »Sie hatte sich immer gewünscht, um die Welt zu reisen, aber zu mehr als Ferien in Nordafrika hat es nie gereicht. Also lernte sie stattdessen Fremdsprachen, und zwar Dutzende. Als Junge habe ich zusammen mit ihr gelernt.«
Amal hatte ein Regal erreicht, das statt mit Büchern mit Fotos gefüllt war. »Ist sie das?«
Er sah auf das Bild, auf das sie zeigte. »Ja. Das ist von der Hochzeitsreise. Sie und mein Vater haben eine Kreuzfahrt auf dem Nil gemacht.«
»Sie ist schön«, sagte Amal.
»Das war sie«, pflichtete Mustafa ihr bei. »Auf dem nächsten Bild, dem im Silberrahmen, das sind mein Onkel Fayyad und meine Schwestern, Nawra, Qamar und Latifa.«
»Wohnen deine Schwestern in Bagdad?«
»Nawra und Qamar wohnen in Falluja. Latifa lebt in Palästina; ihr Mann ist Leiter einer Ferienwohnanlage in Haifa.«
Als Nächstes kamen Mustafas Hochzeitsbilder. Amal warf einen Blick darauf, sagte aber nichts.
»Ja«, sagte Mustafa, damit sie die Frage nicht zu stellen brauchte. »Meine zwei Frauen. Links ist Fadwa, rechts Nur. Bei all dem Klatsch und Tratsch im Büro weißt du mittlerweile bestimmt alles über die beiden.«
»Es steht mir nicht zu, über meine Kollegen zu tratschen.«
»Wie nett von dir, aber schon gut. Ich bin daran gewöhnt … Weißt du, ich habe die Rede gehört, die deine Mutter letzten Monat im Senat gehalten hat, über das Ehereformgesetz. Ich fand es sehr mutig von ihr, dem Haus Saud so, wie sie es getan hat, die Stirn zu bieten.«
»›Mutig‹ ist nicht das Wort, das ihre eigenen Kollegen benutzen würden«, sagte Amal. Dann fuhr sie mit sorgsam gewählten Worten fort: »Meine Mutter ist der festen Überzeugung, dass die Polygamie, sosehr die Tradition sie auch verteidigen mag, eine Beschneidung der Rechte der beteiligten Frauen darstellt.«
»Deine Mutter hat recht«, sagte Mustafa.
Das berühmteste Foto von Amals Mutter war am frühen Morgen des 10. November 2001 aufgenommen worden. Bürgermeisterin al-Maysani war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, hatte die Notfallmaßnahmen koordiniert, war durch die ganze Stadt von Krisenherd zu Krisenherd gefahren und zweimal am NullPunkt gewesen. Als die Sonne aufging, war sie ein weiteres Mal aufgebrochen, um sich einen ersten klaren Eindruck von der Katastrophenstätte bei Tageslicht zu verschaffen.
Sie verließ ihre Kommandozentrale im Rathaus und trat hinaus auf die Haifastraße. Sie verzichtete auf ihren Dienstwagen und machte sich, anfangs nur mit einem kleinen Gefolge von Beratern und Sicherheitsleuten, zu Fuß auf in Richtung Norden. Schon einen Block weiter begannen sich ihr andere anzuschließen: erschöpfte Polizisten und Feuerwehrmänner, Notärzte und Rettungssanitäter sowie Dutzende ganz gewöhnlicher Bagdader Bürger, die aus Sturheit oder unter Schock den Evakuierungsbefehl ignoriert hatten.
Als hinter einer Biegung der Straße die Ruine der Türme in Sicht kam, ging die Prozession schon in die Hunderte. Als die Bürgermeisterin eine trotzige Faust
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