Mirage: Roman (German Edition)
privilegierter Schicht, der Erbe eines der reichsten Männer Arabiens. Aber wie viele Reicheleutekinder vor dir begnügst du dich nicht damit, Gott für Seine Gaben zu danken. Du wirst unzufrieden, verachtest das, was du als eine dekadente Gesellschaft und eine korrupte politische Kultur ansiehst.
Schließlich steigst du aus, gehst nach Peshawar und dann nach Afghanistan. Das harte Leben eines Gotteskriegers sagt dir zu, und deine Erfahrungen auf dem Schlachtfeld führen dich zu einer finsteren Epiphanie. Das afghanische Volk hat von jeher Entbehrungen erdulden müssen, und unter den Russen hat sich ihr Leiden nur vervielfacht, aber trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – scheinen dir die Männer, an deren Seite du kämpfst, eine reinere, von neuzeitlichen Häresien unbefleckte Form von Islam zu praktizieren. Irgendwann fragst du dich, was eine Dosis des gleichen Leids für den Zustand des Glaubens in deinem eigenen Land leisten könnte.
Natürlich kannst du Arabien nicht in ein Afghanistan verwandeln. Aber vielleicht ist es auch gar nicht nötig. Das moderne Leben hat deine Landsleute so verweichlicht, dass es vielleicht reichen würde, ihnen einen schweren Schock zu versetzen, um sie wieder auf den Weg des Gerechten zu treiben. Wenn Gott es will, ist alles möglich; und wenn es eine Gewissheit gibt, die dir das Leben eines Gotteskriegers geschenkt hat, dann die, dass du Gottes Willen weißt .
Also kehrst du in die Heimat zurück, ein gefeierter Held. Du gibst vor, mit der politischen Elite von Riad Frieden zu schließen, gestattest ihr, dir zu einer Machtstellung zu verhelfen. Hinter den Kulissen baust du al-Qaida auf, das Fundament einer neuen Weltordnung. Du entsendest Kundschafter in die Christenheit mit dem Auftrag,die Kreuzzügler zu finden, die, als deine Marionetten, einen nicht provozierten Krieg gegen den Islam beginnen werden.
Und so kommt der 9. November 2001: Der Plan wird in die Tat umgesetzt, und der Erfolg übertrifft selbst deine kühnsten Träume. Drei von vier Maschinen erreichen ihre Ziele. Das Blutbad ist spektakulär. Selbst der Abschuss der vierten Maschine – derjenigen, von der du gehofft hattest, dass sie den jungen saudischen Präsidenten töten würde – erweist sich als ein Segen. Vom Ausmaß der Zerstörung und von seiner eigenen knappen Rettung erschüttert, ruft derselbe Präsident zu einem Jihad gegen den Terrorismus auf – genau dem Heiligen Krieg, den du wolltest. Die politische Stimmung schlägt abrupt zugunsten der Partei Gottes um. Die Menschen kehren scharenweise in die Moscheen zurück. Gottes Wille – wie du ihn verstehst – steht kurz vor seiner Offenbarung.
Und dann«, sagte Mustafa, »beginnt alles irgendwie aus dem Ruder zu laufen. Die Republik gerät ins Wanken, bricht aber nicht zusammen. Je mehr der Schock des 9.11. verblasst, desto mehr werden Zweifel an der Klugheit mancher Aktionen des Präsidenten laut. Und es sind nicht nur die eingefleischten Säkularisten der Einheitspartei, die Fragen stellen. Während sich die Besetzung Amerikas immer länger hinzieht, während geheime Informationen über Menschenrechtsverletzungen an die Presse durchsickern, werden Fatwas zu überraschenden Themen erlassen: Fatwas, die die Folter verurteilen, die Aushöhlung der Grundrechte verurteilen, die Verfolgung von Christen verurteilen – ja sogar den Angriff auf Amerika verurteilen.
Für dich, in dessen Augen Hingabe an Gott und Treue zur liberalen Demokratie einander ausschließende Gegensätze sind, muss dies alles äußerst verblüffend sein. Offensichtlich reicht die Fäulnis tiefer, als du angenommen hattest. Weitere Schocks sind erforderlich. Glücklicherweiselassen sich die Kreuzzügler in der Hinsicht nicht lange bitten. Die Amerikaner dürsten nach Vergeltung, und die Europäer gehen ihnen dabei gern zur Hand. Du brauchst nicht einmal einen Finger krummzumachen, kannst dich einfach zurücklehnen und zuschauen, wie sie mit ihren Bomben und ihren heiligen Schriften nach Bagdad strömen. Aber die Wächter der inneren Sicherheit sind jetzt alarmiert, und viele dieser Möchtegern-Märtyrer werden gefasst und vernommen. Und sie erzählen eine sehr seltsame Geschichte.
Als Vorsitzender des Geheimdienstausschusses des Senats bist du einer der Ersten in Arabien, die von dieser merkwürdigen Legende erfahren, an der sich die Kreuzzügler hochziehen. Die Parallelen zwischen dem sagenhaften 11. September und dem realen 9. November sind, gelinde gesagt, alarmierend.
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