Mirage: Roman (German Edition)
werden, bevor ihre Mutter sie wieder ins Bett scheuchte. Als Amal die Küche verließ, schaute sie über die Schulter zurück und sah, wie Udai ihr mit einem Lächeln auf den Lippen auf den Hintern starrte.
Einige Tage später setzte sich ihre Mutter mit ihr zusammen, um über ihr Studium zu reden. Amal hatte noch ein Jahr Oberschule vor sich, und anschließend hatte sie gehofft, an die Uni Bagdad gehen zu können, aber jetzt hatten ihre Eltern einen vollkommen anderen Plan ausgeheckt. Amals Tante Nida saß im Vorstand der Universität des Libanons, die ein Begabtenförderungsprogramm mit vorzeitiger Immatrikulation hatte. Mit ihren guten Noten würde Amal sicherlich angenommen werden. Sie konnte noch im selben Herbst anfangen zu studieren.
»Aber ich habe den Abschluss doch noch gar nicht«, sagte Amal verunsichert.
»Du wirst eine Aufnahmeprüfung ablegen müssen«, erklärte ihre Mutter. »Aber das ist kein Problem – du kannst schon den Sommer bei Nida verbringen, und sie besorgt dir einen Tutor. Sie hat schon zugesagt.« Bevor Amal irgendwelche Einwände erheben konnte, fügte ihre Mutter hinzu: »Dein Vater und ich finden, dass das eine einmalige Gelegenheit ist. Du wirst sie ergreifen.«
Ein paar Wochen später setzten sich Shamal und Amal frühmorgens in den Familienkombi und nahmen die Fernstraße in westlicher Richtung. Amal steckte voller Fragen, von denen sie wusste, dass sie sie eigentlich nicht stellen durfte. Während sie durch das Gouvernement al-Anbar fuhren, versuchte sie, sich irgendeine magische Formulierung auszudenken, die ihr gestatten würde, sie dennoch zu stellen, aber jedes Mal, wenn sie meinte, eine passende Eröffnung gefunden zu haben, sah sie ihren Vater von der Seite an und vergaß, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Schließlich nickte sie erschöpft ein. Als sie wieder aufwachte, waren sie in Syrien.
Sie aßen zu Mittag in einem Imbiss außerhalb von Damaskus und führten dabei etwas, das sich im strengen Sinne des Wortes als ein Gespräch bezeichnen ließ, über die Kurse, die Amal in ihrem ersten Semester zu belegen gedachte. Aber die Worte waren reine Oberfläche, und sobald sie wieder im Auto saßen, schwiegen sie, bis sie Beirut erreichten.
Als sie vor Tante Nidas Haus hielten, war es später Nachmittag. Obwohl sie zehn Stunden unterwegs gewesen waren, erklärte Shamal, dass er nicht bleiben würde; er habe am nächsten Tag Dienst und müsse zurück nach Bagdad. Amal spürte, dass es ihm weniger um den Dienst ging als darum, seinen Kollegen nicht erklären zu müssen, wo er gewesen war.
Shamal stellte Amals Koffer auf den Bürgersteig und küsste sie auf die Stirn. »Sei gut«, ermahnte er sie. »Mach uns stolz.«
Amal öffnete den Mund, um ein Versprechen abzugeben, aber was herauskam, war: »Du auch.«
Tante Nida war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die in die Politik gegangen war und jetzt vorhatte, für das Repräsentantenhaus zu kandidieren. Sie war Mitglied der Einheitspartei, der liberalen, säkularen panarabischen Partei, die Gamal Abd el-Nasser Ende der Fünfzigerjahre gegründet hatte. Im Libanon hatte die EP nicht nur gegen eine, sondern gleich zwei Gottesparteien zu kämpfen: die von Sunniten und dem Haus Saud dominierte konservative Nationale PG und die ultrakonservative Libanesische PG, die in fast ausschließlich schiitischen Händen war.
Die politischen Ränke, die erforderlich waren, um die zwei PGs gegeneinander auszuspielen, lieferten zwar faszinierende Kriegsanekdoten, ließen Nida aber nur wenig Zeit, sich als Anstandsdame zu betätigen – insbesondere seitdem Amal (die ihre Aufnahmeprüfung mit Bravour bestanden hatte) auf dem Campus der Uni-Lib wohnte. Nida beauftragte einen ihrer Söhne, regelmäßig nach Amal zu sehen, aber die meiste Zeit über war sie sich selbst überlassen und genoss eine Freiheit, die in Bagdad unvorstellbar gewesen wäre.
Ihre zwei Mitbewohnerinnen waren Jemila und Iman, beide Geisteswissenschaftlerinnen, aber ansonsten so verschieden, wie man es sich nur vorstellen konnte. Jemila, eine gebürtige Beiruterin, die Theaterwissenschaften studierte, war das, was man zu der Zeit als ein »modernes Mädchen« bezeichnete, was je nachdem »freigeistige Intellektuelle« oder, mit etwas anderer Betonung, »Hure« bedeuten konnte. Jemila verfügte über einen stetigen Zustrom von Liebhabern, und es waren eben die Liebhaber, die das Attribut »modern« zumeist im zweiten Sinne verwendeten – mit einem Lächeln, wenn sie
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