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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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seines Atems. Anschließend begleitete er sie zu ihrer nächsten Vorlesung und fragte, ob er sie wiedersehen könne. Sie sagte ja.
    Sie begannen, sich regelmäßig zu treffen, zu Rendezvous, die nicht als solche deklariert wurden: Picknicks auf der Ufermauer, die das Unigelände säumte; langen Spaziergängen durch das Stadtzentrum, das nach einer anderthalb Jahrzehnte währenden Rezession eine neue Blüte erlebte und täglich mit neuen Gebäuden aufwartete. Amal lernte mehr von Anwars Freunden kennen, darunter auch einige Amerikaner – lustige, gutartige Leute mit einem komischen Akzent. Jahre später, während der Anheizphase vor der Invasion, würde sie an sie zurückdenken und sich fragen, ob sie koscher gewesen waren.
    Anwar erzählte ihr von seinen Abenteuern als Diplomatensohn, und Amal revanchierte sich mit einer Auswahl aus Tante Nidas politischen Kriegsgeschichten. In Bezug auf ihre Eltern war sie verschwiegener, aber schließlich verriet sie ihm doch, dass ihr Vater bei der Bagdader Polizei war. Zum Teil, um Anwar auf die Probe zu stellen, erzählte sie ihm von ihrer Absicht, ABE-Agentin zu werden. Sie erkannte an seiner Reaktion, dass er das für eine etwas merkwürdige Berufswahl hielt, aber er sagte nichts Abfälliges darüber. »Vielleicht besuchst du mich ja mal im Außenministerium, wenn du nach Riad kommst«, sagte er lächelnd.
    Sie lud ihn ein, mit zum Schießstand zu kommen. Anwarwar auf dem Gebiet kein Naturtalent, dafür aber ein guter Verlierer, der applaudierte, als Amal wiederholt ins Schwarze traf, während er selbst es in den meisten Fällen nicht einmal schaffte, überhaupt die Scheibe zu treffen. Auf dem Weg zurück zum Campus hielten sie an einem Zeitungsladen. Während Anwar vorn am Tresen Zigaretten kaufte, schlenderte Amal nach hinten zum Regal mit den Zeitungen aus anderen Bundesstaaten. Und da sah sie das Foto ihres Vaters, wie er in Uniform zusammen mit einem Dutzend weiterer Polizeihauptkommissare auf der Außentreppe des Rathauses stand. AUFGESTELLT GEGEN DIE KORRUPTION lautete die Schlagzeile der ›Bagdader Gazette‹. ANKLAGE GEGEN SADDAM ERMUTIGT REFORMER fügten die ›Tagesnachrichten‹ hinzu. Die Schlagzeile der ›Post‹ klang bedrohlicher: DAS SIND SIE.
    »Amal?«, sagte Anwar und trat an ihre Seite. »Stimmt was nicht?«
    »Doch, doch, es ist alles bestens!« Sie zog ihn weg, bevor er sehen konnte, was sie gelesen hatte. Es war das allererste Mal, dass sie ihn bei der Hand genommen hatte – und sie ließ auch nicht wieder los, selbst als sie das Geschäft schon weit hinter sich gelassen hatten.
    In den folgenden Tagen kam es zu mehreren weiteren Premieren. Und so begab es sich, dass Amal nicht lange danach, an einem Vormittag, an dem sie eigentlich beide Vorlesungen gehabt hätten, auf der Ufermauer saß und Anwar dabei zuhörte, wie er ein neues Gedicht vorlas, einen Antrag in Versen. Das Schlüsselwort in dem Gedicht – sigheh – gehörte nicht zu der Handvoll Farsi-Ausdrücke, die sie inzwischen von ihm gelernt hatte, aber aus dem Kontext und dem leidenschaftlichen Ton, in dem er sprach, schloss sie, dass er sie bat, ihn zu heiraten. Was er in gewisser Weise auch tat.
    »Zeitehe?« Der Begriff, letztlich nichts anderes als eine Liebesaffäre mit Gottes Segen, war wie direkt aus einem Liebes-Schundroman gepflückt. Er fiel außerdem genau in die Kategorie von Dingen, die kein Mädchen mit etwas Grips im Kopf oder Selbstachtung im Leib auch nur in Betracht ziehen würde.
    Amal wusste nicht, was sie von Anwars Angebot halten sollte. Es war so, als hätte er sie mit einem zweideutigen Beinamen angesprochen. Hielt er sie für eine Idiotin? Glaubte er, sie sei eine Hure? Oder versuchte er wirklich, auf seine persönliche schräge Art, charmant zu sein? Derweil deutete Anwar Amals Miene als Zeichen dafür, dass er sie tödlich beleidigt hatte, und versuchte, seine Worte zurückzunehmen. »Bitte«, flehte er, »vergib mir! Vergiss, dass ich überhaupt etwas gesagt habe!«
    Doch Amal – die sich an seinen Atem in ihrem Ohr, seine Hand in der ihren erinnerte – war gar nicht so sicher, dass sie das vergessen wollte. Sie brauchte etwas Bedenkzeit.
    Sie erwog, in der schiitischen Campusmoschee Rat einzuholen, aber die Moschee war ein Treff von Gottesparteilern und somit nicht sonderlich gastfreundlich. Stattdessen redete sie also mit ihren Mitbewohnerinnen.
    Jemila war dagegen. »Sei nicht lächerlich, Amal! Wenn du mit ihm schlafen willst, dann tu es einfach!«

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