Mirage: Roman (German Edition)
Zunächst dachte Amal, das sei einfach Jemila, die sich wie üblich modern gab, aber dann ging ihr auf, dass etwas mehr dahintersteckte. Jemila war Sunnitin, und die Sunniten glaubten, die Zeitehe sei verboten. Natürlich glaubten die Sunniten auch, wie alle anderen Muslime, außerehelicher Sex sei verboten, aber Jemila machte anscheinend einen Unterschied zwischen Sünden, die ihr zusagten, und Sünden, die sie geschmacklos fand. »Ich meine, ernsthaft, das ist doch echt krass, wenn du’s dir mal überlegst. Wie richtig auf den Strich gehen.«
»Was sagst du da, Jemila?«
»Na ja …« Jemila erkannte, dass sie auf wackligem Boden stand, und ging in die Defensive. »Ich meine bloß, so einenrichtigen Handel abzuschließen … Das ist doch so, als würdest du dich vermieten …«
Amal starrte ostentativ auf den Goldreif an Jemilas Handgelenk. »Und das sagt das Mädchen, das von jedem ihrer ›Freunde‹ Geschenke erwartet.«
»Das sind Geschenke , keine vertraglichen Verpflichtungen!«
Iman wunderte Jemilas Einstellung gegenüber der Zeitehe nicht. Was sie wunderte, war die Tatsache, dass Amal sie nicht teilte. »Ist er denn nicht auch Sunnit?«
»Er ist Sunnit, aber seine Großmutter ist Schiitin.«
»Meine Großmutter ist Jüdin«, sagte Iman. »Aber du hast mich noch nie Jom Kippur feiern sehen.«
»Anwar weiß, dass ich Schiitin bin«, sagte Amal. »Und er respektiert mich, also …« Sie unterbrach sich, weil Iman lachte. »Also schön. Du glaubst, er will lediglich mit mir ins Bett, ist es das?«
»Wenn er Schiit wäre, dann würde ich das ganz entschieden annehmen. Und ich glaube nach wie vor, dass das die wahrscheinlichste Erklärung ist, aber da ist ein Unterschied: Ein schiitischer Junge, der, um seinen Spaß zu bekommen, eine Zeitehe vorschlägt, glaubt vielleicht aufrichtig, Gottes Gesetz zu befolgen. Ein sunnitischer Junge weiß, dass er ein Zyniker ist.«
»Freut mich, dass du eine so hohe Meinung von Anwar hast!«
»Es ist nicht die einzige mögliche Erklärung. Ich kann mir auch andere Gründe denken, warum ein Sunnit eine Zeitehe vorschlagen könnte, aber die sind alle schlimmer.«
»Was für andere Gründe?«
»Er könnte ein Idiot sein«, sagte Iman. »Oder geisteskrank.«
»Ach, ist ja wunderbar. Sonst noch was?«
»Der schlimmste aller möglichen Gründe: Er könnte in dich verliebt sein. Vielleicht ist er in Wirklichkeit auf eineDauerehe aus, hat aber Angst, dass du dazu noch nicht bereit bist, also schleicht er sich auf diese Weise an das Eigentliche heran.«
»Das nennst du den schlimmsten Grund?«, sagte Amal. »Wie könnte es schlecht sein, wenn Anwar mich liebt?«
»Weil du ihn nicht liebst«, sagte Iman. »Ich habe gehört, wie du über ihn redest, Amal. Du magst Anwar. Du genießt seine Gesellschaft und die Aufmerksamkeit, die er dir schenkt. Er lenkt dich von deinen Sorgen um deine Familie ab. Aber du liebst ihn nicht, und ich glaube nicht, dass eine Zeitehe – oder eine Affäre – etwas daran ändern wird.«
»Na, es spielt sowieso keine Rolle«, sagte Amal. »Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich vorhätte, Anwars Angebot anzunehmen.«
»Aber abgelehnt hast du es auch noch nicht.«
»Nein, aber das mach ich noch.« Und dann, wie um klarzustellen, dass es zwar durchaus jemanden in ihrem Bekanntenkreis gab, der als idiotisch bezeichnet werden konnte, dieser Jemand aber nicht Anwar hieß, fügte sie hinzu: »Mach dir mal keinen Kopf, Iman. Ich weiß, was ich tue.«
Die Nummer auf Umm Dabirs Zettel hatte nicht die Riader Vorwahl, die Amal erwartet hatte, sondern die von Bagdad. Während sie wählte, wiegte sie sich noch in der Hoffnung, dass es sich wirklich nur um einen dummen Scherz handelte. Aber die Stimme, die sich meldete, sagte »Ar-Raschid-Hotel«, und als sie bat, mit Abu Salim bin Amjad verbunden zu werden, wurde sie gleich durchgestellt. Die nächste Stimme, die sie hörte, war Anwars.
Er erklärte ihr, er sei wegen einer Konferenz in der Stadt und müsse sie sehen. Er wollte zwar nicht sagen, warum, aber er wollte auch kein Nein akzeptieren, und den Impuls, einfach aufzulegen, hemmte der Gedanke, dass er dann noch einmal Faruks Büro anrufen oder vielleicht sogar persönlich aufkreuzen würde.
Sie nannte ein Restaurant ein paar Blocks vom Hotel entfernt und sagte zu, sich an dem Abend um halb sieben mit ihm zu treffen. Sie war früher da und parkte ihren Wagen, wie eine verdeckte Ermittlerin das tun würde, auf der anderen Straßenseite, mit der
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