Mirage: Roman (German Edition)
befürchtete sehr, es könnte einer der Fälle sein, wo es so kommen würde. Und es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie das Gleichgewicht wiederhergestellt werden könnte.
Am Vorabend von Saddam Husseins Prozess war Hussein Kamel verschwunden. Gerüchten zufolge hatte er, mit der Aussicht auf ein ganzes Leben im Untergrund konfrontiert, im letzten Moment den unklugen Versuch unternommen, sich mit seinem Schwiegervater wieder auszusöhnen. Er war den Bundespolizisten, die zu seinem Schutz abgestellt waren, entwischt und zu Saddam gegangen, um ihn um Vergebung zu bitten – mit vorhersehbarem Erfolg. Ohne Kamels Zeugenaussage fiel die Anklage gegen Saddam in sich zusammen; die Bundesanwälte warfen das Handtuch und zogen sich nach Riad zurück, womit sie die Beamten der städtischen Polizei, die Saddam herausgefordert hatten, nackt und ungeschützt zurückließen – wie die Vorhut einer Befreiungsarmee, die niemals eingetroffen war.
»Vater?« Am Tag, nachdem Hussein Kamels Leiche aufgefunden worden war, hatte Shamal seine Tochter angerufen. »Vater, ist mit dir alles in Ordnung?«
»Ja, uns geht’s allen gut!« Er musste brüllen, um den Hintergrundlärm zu übertönen. Er rief von einem Münztelefon aus an, da er ihrem Privatanschluss nicht mehr traute. »Es ist schön, deine Stimme zu hören!«
»Vater, kommst du mich besuchen?«
»Deine Mutter kommt bald«, sagte Shamal. »Und deine Brüder auch. Ich selbst kann momentan, glaube ich, schlecht weg …«
»Nein, Vater, du musst auch kommen!«
»Ich habe hier einiges zu erledigen, Amal. Ich werde dich besuchen, sobald ich kann. Du fehlst mir.«
»Du fehlst mir auch, Vater«, sagte Amal und fing an zu weinen.
… und jetzt weinte sie wieder, in dieser anderen Welt, der Stadt der Zukunft, in der ihr Vater nicht mehr lebte.
Sonnenlicht brach sich blitzend an einem vorbeifahrenden Auto, und sie sah auf der anderen Straßenseite Anwar kommen. Er hatte sie noch nicht gesehen, und während er auf der Suche nach dem Restaurant den Bürgersteig entlangging, beeilte sich Amal, ihre Fassung wiederzugewinnen. Der Mann aus meiner Vergangenheit, dachte sie und stieg aus, um seinen Namen zu rufen. Nur eben nicht den richtigen.
»Du siehst gut aus«, sagte Anwar.
Sie saßen in einer hinteren Ecke des Restaurants, zwischen sich unberührte Speisekarten und Gläser mit Wasser. Amal bereute schon jetzt die Wahl des Treffpunkts, der die Möglichkeit eines langen, entspannten Gesprächs suggerierte. Sie wollte nur herausfinden, worauf Anwar aus war – was nötig sein würde, damit er sich wieder verzog –, und dann verschwinden.
Anwar schien sich gleichfalls nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Sein Lächeln wirkte gezwungen, und seine Haltung hatte etwas gequält Starres, als stünde sein Stuhl leicht unter Strom. Aber anstatt möglichst schnell zum Thema zu kommen, musste er unbedingt Konversation machen.
»So«, versuchte er eine neue Eröffnung, »du hast es tatsächlich gemacht. Bist Bundesagentin geworden, meine ich.«
»Ja«, sagte Amal.
»Das ist toll!« Ein Kellner kam vorbei, trug Essen zu einem anderen Tisch, und Anwar streckte die Hand nach seiner Speisekarte aus. »Hast du Hunger? Sollen wir …«
»Anwar«, sagte Amal scharf.
»Stimmt.« Er ließ die Speisekarte fallen und hob die Hände, wie um sich zu ergeben. »Also gut.«
»Sag mir bitte, worum es hier geht. Du rufst in meinem Büro an, im Büro meines Chefs …«
»Das tut mir leid«, sagte Anwar. »Das war dumm von mir, ich weiß. Ich hatte Angst, du würdest nicht mit mir reden wollen.«
»Also hast du beschlossen, meinen Chef anzurufen? Dachtest du, mich in Verlegenheit zu bringen würde mich eher geneigt machen, mit dir zu reden? Oder war das als eine Drohung gemeint?«
»Nein! Nein, ich … ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe. Aber es ist wichtig, Amal. Ich musste dich sehen.«
»Nun, hier bin ich«, sagte Amal. »Also, worum geht’s?«
»Es geht um unseren Sohn.« Er sah sie mit plötzlichem Trotz an, forderte sie dazu heraus, seine Wahl des Pronomens anzufechten. »Um unseren Sohn … Er hat eine große Dummheit begangen, etwas, das ich allein nicht wieder einrenken kann.«
»Was hat er gemacht?«
»Ich glaube, er versucht, in deine Fußstapfen zu treten.«
»Was soll das … Anwar, du hast ihm doch nicht …«
»Nein.« Anwar schüttelte den Kopf. »Er weiß nichts von dir. Er hält Nasrin für seine Mutter, und sie, sie liebt ihn sehr. Aber er muss irgendetwas von
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