Mirage: Roman (German Edition)
sagen müssen.«
Es war nicht ihre Mutter, was ihr die größten Sorgen bereitete. »Und Vater?«
»Wie du weißt, hat Shamal andere Dinge, um die er sich kümmern muss. Vielleicht ist es nicht unbedingt nötig, ihn gerade jetzt damit zu behelligen. Ich kann nichts versprechen«, fügte Nida hinzu. »Wir werden sehen, was deine Mutter sagt.« Dann sah sie sich im Zimmer um. »Also gut, dann lass uns packen.«
»Packen?«
»Natürlich. Hier kannst du nicht bleiben, so wie du aussiehst.«
»Aber … mein Studium …«
»Das wird eine Zeitlang warten müssen.« Nida hatte ihr streitbares Gesicht aufgesetzt, die Miene, die sie an den Tag legte, wenn sie Pläne gegen die PGs schmiedete. Man konnte ihr förmlich von den Augen ablesen, wie sich die Kriegslisten in ihrem Kopf zum Dienst meldeten. »Keine Sorge, wir werden schon was austüfteln …«
Amal blieb die nächste Woche bei ihrer Tante, ging nicht aus dem Haus, schaute nicht mal aus dem Fenster. Eines Tages hämmerte es an der Haustür; Amal versteckte sich im Obergeschoss und hörte zu, wie sich Anwar wütend mit Tante Nida stritt. Am nächsten Tag stand er wieder auf der Matte, und diesmal überließ Nida es ihren Leibwächtern, ihn abzufertigen.
Ein paar Tage darauf setzte sie sich mit Amal zu einem Gespräch zusammen. »Ich habe mit den Eltern des Jungen geredet. Der Vater ist ein vernünftiger Typ. Er ist ganz meiner Meinung, dass wir am besten so tun, als wäre die ganze Sache nie passiert.« Dann die schlechte Nachricht: »Der Junge ist weit störrischer. Er leidet unter einer Kombination von Rebellentum und Romantik. Hat sich in Teheran vermutlich zu lange mit Künstlern herumgetrieben.«
»Bitte«, sagte Amal, das Schlimmste befürchtend. »Sag mir, dass ich nicht mit ihm zusammenbleiben muss!«
»Nein. Die Ehe ist zu Ende. Jedenfalls bald. Aber der Junge will etwas anderes. Etwas, wofür er bereit ist, seinem Vater die Stirn zu bieten.«
Amal spürte einen Tritt und ließ die Hand auf ihren Bauch fallen.
Sie konnte unmöglich im Haus ihrer Tante entbinden. Jetzt, wo Tante Nidas Wahlkampf in die heiße Phase trat, würden ihre Gegner versuchen, jeden Schmutz ans Tageslicht zu zerren, den sie nur finden konnten. Aber Nida hatte in den ausgefallensten Ecken etwas gut; ein Anruf, undAmal konnte ihre Schwangerschaft an einem Ort zu Ende führen, wo die Partei Gottes niemals suchen würde.
Das Nonnenkloster lag an der Küste, eine Autostunde von Beirut entfernt. Amal erfuhr nie dessen Namen, und auch den der meisten Frauen nicht, die dort lebten. Mit Ausnahme einer Schwester Demiana, die sie an der Pforte in Empfang nahm und ihr zeigte, wo sie schlafen würde, hatten sämtliche Nonnen das Schweigegelübde abgelegt.
Amal bekam ein Zimmer im dem Meer zugewandten Nordturm des Klosters zugewiesen. Die Aussicht war schön, aber auf die Ikone der Heiligen Jungfrau (eine subtile Ironie, die ihr keineswegs entging) hätte sie gern verzichtet. Umm Isa, betete Amal an diesem ersten Tag, ich habe eine einfache Bitte: Hör auf, mich anzustarren. Später, als sich ihre Gefangenschaft mehr und mehr in die Länge zog, bat sie um eine andere Gnade: Könnten wir die Sache nicht ein bisschen beschleunigen?
Das Kind kam tatsächlich verfrüht, wenn sich die Wehen auch eine ganze Nacht hinzogen. Gegen Ende fing Amal an zu delirieren und stellte sich vor, sie wäre an zwei Orten zugleich: in der sauberen hellen Krankenstation, in der Schwester Demiana sie abgeliefert hatte, und in einem anderen, weit trüberen und einsameren Raum, wo ihr nicht einmal ein Heiligenbild Gesellschaft leistete, nur eine flackernde Glühbirne, die sich in eine hohe rauchlose Flamme verwandelte. »Pressen!«, sagte eine Stimme – die der Hebamme, ihre eigene –, und Amal presste.
Anfang September war sie wieder bei Tante Nida und füllte einen Stapel Formulare aus, um ihr Studium wiederaufnehmen zu dürfen. Anwar war weg. Das Baby, dessen Gesicht Amal nie gesehen hatte, war ebenfalls weg. Amal hatte jetzt eine strenge abendliche Ausgangssperre und eine bezahlte Aufpasserin, die sie überallhin begleitete, aber abgesehen davon war es wirklich so, als wäre das Ganze nie passiert. Und das Beste war, Amals Vater hatte noch immernichts von der Sache erfahren, und es sah mehr und mehr danach aus, als ob es auch so bleiben würde.
Amal wusste, dass sie dankbar sein sollte, und sie war es auch. Sie war außerdem starr vor Angst. Auf Glück muss nicht unbedingt Unglück folgen, aber Amal
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