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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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Schnauze in die Richtung, aus der er aller Wahrscheinlichkeit nach kommen würde.
    Sie hatte im Büro seinen Namen im Internetz gesucht. Und tatsächlich war er Bundesbeamter, wenngleich nicht beim Auswärtigen Amt, wie er es immer vorgehabt hatte, sondern beim Handelsministerium, im Patent- und Markenamt. Seine Frau, Nasrin, war Perserin, die vierte Tochter eines ehemaligen Handelsdelegierten. Sie hatten zwei eigene Töchter … und einen Sohn.
    Abu Salim. Salims Vater. Natürlich war es für einen Vater die natürlichste Sache von der Welt, sich nach seinem erstgeborenen Sohn zu nennen. Aber wenn der Sohn das Produkt einer Ehe ist, die nie hätte geschlossen werden dürfen, und einer Frau, die einen zurückgewiesen hat … Wer würde so etwas machen? Was bedeutet es? Was willst du von mir, Anwar?
    Amal war im fünften Monat ihrer sigheh gewesen, als Tante Nida davon erfuhr. Amal fand nie heraus, von wem sie den Tipp bekommen hatte, allerdings hatte sie den Verdacht, dass Iman aus interesseloser Güte heraus zum Telefon gegriffen hatte.
    An dem Tag war sie an der Ufermauer spazieren gegangen und hatte darüber nachgedacht, ins Wasser zu gehen. Selbst im Augenblick der größten Verzweiflung lag Selbstmord jedoch nicht in Amals Natur. Eine andere Idee – übers Meer in ein Land zu fliehen, in dem sie niemand kannte – reizte sie dagegen durchaus, und wenn sie auf ein unbewachtes Schiff gestoßen wäre, hätte sie sich vielleicht an Bord geschlichen.
    Stattdessen ging sie zum Wohnheim zurück. Als sie hereinkam, starrte ein Mädchen, das in der Eingangshallesaß, sie an, und sie raffte die Abaya enger um sich. Um ihre Gewichtszunahme zu verschleiern, kleidete sie sich in letzter Zeit immer konservativer, aber bald würde nicht einmal mehr eine Burka ihren Bauch verbergen. Schon jetzt wurde geflüstert.
    Anwar wollte mehr tun als flüstern. »Lass uns unsere Ehe offen bekanntgeben und zusammenziehen«, sagte er. »Wir lieben uns, wo liegt das Problem?« Das Problem? Das Problem war eine Zukunft, in der Amal in Riad leben würde, und zwar nicht als ABE-Agentin, sondern als brave Hausfrau. Eine Zukunft, in der sie, anstatt ihrem Vater dabei zu helfen, die Baath aus dem Irak hinauszujagen, im Hayat-Einkaufszentrum schaufensterbummeln ging. Ach, und außerdem liebten sie sich nicht. Anwar war geistesgestört, und Amal war eine Idiotin.
    Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, und da saß Tante Nida auf ihrem Bett und rauchte eine Zigarette. Amal erstarrte und versuchte panisch, sich irgendeine Lüge auszudenken, aber es hatte keinen Zweck; sie konnte es Tante Nida vom Gesicht ablesen, dass sie schon alles wusste.
    »Amal«, sagte Nida. »Ich bin sehr von dir enttäuscht.« Dieser sanfte Tadel, dem kein weiterer folgen würde, traf Amal wie ein Keulenschlag. Sie fiel nicht in Ohnmacht, nicht direkt, aber das Entsetzen, das sie mit Müh und Not in Zaum gehalten hatte, wallte jetzt auf und hüllte die Welt in einen Nebelschleier.
    Als der Nebel sich lichtete, saß Amal auf dem Fußboden, und Nida verhörte sie.
    »Wie viele Monate?«
    »Noch einer«, sagte Amal benommen. »Die sigheh endet in vierunddreißig Tagen.«
    »Nicht die Ehe. Die Schwangerschaft.«
    »Ach so.« Amal errötete. »Ich weiß nicht. Es dürfte vor drei oder vier Monaten passiert sein, schätze ich.«
    »Drei oder vier?«
    »Vier. Ich glaube, ich bin im fünften Monat.«
    »O weh.« Nach traditionellem Glauben schenkte Gott dem Fötus seine Seele hundertzwanzig Tage nach der Empfängnis. In weltliche Begriffe übersetzt, bedeutete dies, dass ein Schwangerschaftsabbruch während der ersten vier Monate legal war und danach teuer. »Weiß es der Junge?«
    »Anwar? Ja, er weiß es.« Sie lachte beinah. »Er findet es toll.«
    »Und du?«, fragte Tante Nida. »Möchtest du mit diesem Jungen zusammenbleiben, Amal? Mit ihm eine Familie gründen?«
    »Nein.« Ohne zu zögern. »Ich möchte …« Ich möchte die letzten fünf Monate wiederhaben. Ich möchte die Zukunft zurückhaben, die ich hatte, bevor ich diese Riesen-, Riesendummheit gemacht habe. Ich wünschte, ich wünschte … »Nein«, wiederholte sie.
    »Na, dann ist gut«, sagte Nida.
    »Gut?« Amal konnte sich nicht vorstellen, dass sich dieses Wort auf sie beziehen könnte.
    »Ich werde mit meinen Freunden in der Hauptstadt reden, mal schauen, wer seine Familie kennt.« Beim Wort »Familie« zuckte Amal zusammen, was Nida mit einem Nicken zur Kenntnis nahm. »Deiner Mutter werde ich es natürlich auch

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