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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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Fremden ist es wert, beschützt zu werden. Ist es nicht genau das, was du beim Heimatschutz tust – das Leben von Menschen retten, die du nicht einmal kennst? Dann tu das. Rette ein weiteres.«
    »Und wenn ich nicht kann?«, sagte Amal. »Oder nicht will?«
    »Dann: Friede sei mit dir«, erwiderte Anwar. »Wenn deine Antwort Nein ist, dann gehe ich und werde dich nie wieder belästigen. Vielleicht kann mein Vater ja doch noch etwas erreichen … Aber bitte, Amal. In Gottes Namen, ich flehe dich an, sag nicht einfach so Nein. Schau erst in dein Herz. So Gott will, wirst du dort etwas Erbarmen finden. Etwas Erbarmen mit unserem Kind, das ist alles, worum ich bitte!«
    Er stand abrupt auf, zitternd und den Tränen nahe, und eilte davon, einen Kellner anrempelnd, der gerade in dem Moment an den Tisch kam, um ihre Bestellung entgegenzunehmen. Der Luftzug seines plötzlichen Abgangs ließ die Blätter des Briefes aufflattern, den er auf dem Tisch liegengelassen hatte.
    »Gnädige Frau?« Der Kellner, ein Paschtune, stand mit gefalteten Händen am Tisch, sichtlich peinlich berührt.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte Amal. »Könnte ich einen Kaffee haben?«
    »Natürlich …«
    Amal sah ihm nach. Dann hob sie Salims Brief auf und begann zu lesen.

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    Teilweise Übereinstimmungen:
    Sodom und Gomorrha – 91,5%
    Verbrechen wider die Natur – 78,9%
    Feminismus – 65,2%
    Europäische Mönchsorden – 42,3%
    Ehrenmord – 22,4%

D ie junge Frau saß mit gebeugtem Kopf vor dem Imam. »Mein Onkel ist nicht mehr mein Onkel«, sagte sie. »Er verbringt die ganze Nacht in Jazzlokalen, zockt und trinkt Alkohol. Er ist grausam meiner Tante gegenüber – er geht nicht mehr in die Moschee und verhöhnt sie, wenn sie das tut. Er hat aufgehört zu beten …«
    »Was du schilderst, ist mir leider nicht unbekannt«, sagte der Imam. »Heutzutage werden allzu viele Kinder des Islam von der modernen Welt verführt.«
    »Nein!« Die Frau schaute plötzlich mit weit aufgerissenen Augen auf. »Nein, Sie verstehen nicht! Mein Onkel hätte niemals seinen Glauben aufgegeben!«
    »Aber …«
    »Der Mann, der in unserem Haus wohnt und vorgibt, mein Onkel zu sein, ist nicht mein Onkel . Er ist jemand anders. Vielleicht … etwas anderes.«
    Armes verlorenes Mädchen, dachte Samir, während diese Szene auf dem Fernseher im Pausenraum lief. Wenn der Imam sie das nächste Mal sah, würde sie ein »Hülsenmensch« sein, weltlich und seelenlos, ihr keusches Kopftuch gegen eine dekadente Fünfzigerjahre-Frisur ausgetauscht. Dem Imam selbst würde es auch nicht viel besser ergehen: Im Minarett seiner eigenen Moschee eingeschlossen, gegen den Schlaf ankämpfend, würde er lieber in den Tod springen, als die Verwandlung zu akzeptieren. Und so würde es dem Sohn des Imams – einem zuchtlosen Saxofonisten, gespielt von einem unglaublich jungen Omar Sharif – überlassen bleiben, die außerirdische Bedrohung zu besiegen. In der letzten Viertelstunde des Films zum Glauben zurückkehrend, würde er einen Lastwagen mit Sprengstoff beladen und durch das Tor des Lagerhauses krachen, von dem aus die Invasoren sich anschickten, ganz Arabien zu infizieren.
    Samir erinnerte sich, wie er mit sechs einmal hatte lange aufbleiben dürfen, um sich zusammen mit seinem Vater ›Die Invasion der Körperfresser‹ anzuschauen. Er hatte sich eng an seinen Vater gekuschelt und sich während der gruseligen Szenen die Hände vors Gesicht gehalten, dann laut gejubelt, als sich das Blatt gegen die Invasoren gewendet hatte.
    Der Stoff war Ende der Siebzigerjahre, mit dem israelischen Schauspieler Leonard Nimoy in der Rolle des todgeweihten Imams, in Farbe neu verfilmt worden. Dieser zweite Aufguss hatte durch seine expliziteren Sexszenen – die die »Weltlichkeit« der Schotenmenschen des Originals eher hausbacken erscheinen ließen – und auch durch das pessimistischere Ende Kontroversen ausgelöst. Die Schlussszene zeigte den Sohn des Imams, der in einer Menschenmenge marschierte und dabei das charakteristische Kreischen einer »Neu-Schote« ausstieß. Die Implikation, dass Außerirdische tatsächlich den Islam besiegen könnten – dass Gott das zulassen würde –, erschien einer ganzen Reihe von realen Imamen und Scheichs als blasphemisch. Es gab Forderungen, den Film zu verbieten. Und Demonstrationen vor einigen Kinos, in denen er lief.
    Samir sah die Neuverfilmung erst mehrere Jahre später, in einer Mitternachtsvorstellung auf dem Campus der UB. Er konnte ihr nichts

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